Marcel war sehr froh, Angelina zu kennen, denn sie war das einzige Mädchen aus der neuen Schulklasse, das von Anfang an nett zu ihm gewesen war.
Er war erst vor einigen Wochen mit seinen Eltern in die Stadt gezogen und hatte all seine guten Freunde in der alten Heimat zurücklassen müssen. Die neue Schule in der Innenstadt war riesig im Vergleich zu seiner alten auf dem Land, und die Schüler hier hatten Marcel gleich am ersten Tag als „Landei“ bezeichnet und sich über seine schlichten, abgetragenen Klamotten und seine stämmige Figur lustig gemacht. Er hatte ihnen versucht zu erklären, dass Kleidungsstücke nun einmal so aussähen, wenn man auf einem Bauernhof lebte und jeden Tag die Ställe reinigte, so wie er es früher in seiner Heimat immer getan hatte, doch daraufhin lachten die Mitschüler nur noch mehr und nannten ihn „Bauer“. Marcel vermisste sein altes Leben auf dem Bauernhof, vermisste die Stille und Harmonie der weiten Wiesen, Felder und Äcker und das Wiehern der Pferde am Morgen bei der Futterausgabe.
Genre: Kinder-Gruselgeschichten
Verfasst: ca. 2004 (da war ich 16 Jahre alt)
Er stand den Alltag in der neuen Stadt nur durch, weil Angelina da war. Sie hatte ihm sofort angeboten, im Unterricht neben ihr zu sitzen und hatte ihm geholfen, sich in den weitläufigen, verzweigten Korridoren des Schulgebäudes besser orientieren zu können. Auch schien sie sehr interessiert an dem Leben eines Landwirtes auf dem Bauernhof zu sein, denn sie stellte ihm oft allerlei Fragen und wollte wissen, wie es war, eine Kuh zu melken oder ein Pferd zu satteln. Immer, wenn sie seinen Erzählungen zuhörte, glühten ihre Wangen rot vor Freude und die hellblauen Augen begannen zu glänzen wie Edelsteine. Manchmal fiel ihr dann eine Strähne ihres langen, weißblonden Haares in die Stirn, und Marcel fand, dass sie in diesen Momenten wirklich sehr schön aussah.
Selbstverständlich freute er sich riesig, als Angelina ihn auf einen Fastnachtsball am Rosenmontag einlud. „Du musst dich aber verkleiden!“, teilte sie ihm am Telefon mit und lachte leise.
„Ja, okay“, antwortete Marcel, „wo findet der Kostümball denn statt?“
„Ich hole dich um halb sieben ab“, erwiderte Angelina und legte auf.
Jetzt war es zwanzig nach sechs und Marcel stand zu Hause vor seinem Spiegel, um noch einmal kritisch seine Verkleidung zu betrachten. Er war – wie eigentlich in jedem Jahr – als Cowboy verkleidet, trug einen großen, beigefarbenen Hut mit Einschussloch in der Krempe und einen Gürtel mit Schreckschusspistole und genügend Munition. Gerade versuchte er sich vorzustellen, als was Angelina sich verkleidet haben mochte, als es an der Tür schellte.
„Ich gehe schon!“, rief Marcel seinen Eltern zu und öffnete. Zuerst glaubte er, jemand habe sich an der Tür geirrt, doch dann erkannte er Angelinas hellblaue, strahlende Augen – aber wie sehr hatte sie sich verändert! Ihre Haut war grünlich-gelb gefärbt und ihre Nase schien ungewöhnlich breit. Zwei lange, spitze Zähne ragten ihr aus dem geschlossenen Mund und ihr Haar war violett und wirkte sehr filzig.
„Angelina! Wow!“, rief Marcel beeindruckt und fühlte sich plötzlich etwas mickrig in seinem albernen Cowboykostüm.
„Magst du mein Kostüm?“, fragte Angelina grinsend und erst jetzt bemerkte Marcel, dass aus ihren grün angemalten Fingern lange, schwarz lackierte Fingernägel herausragten.
„Es ist der Wahnsinn!“, antwortete er und gemeinsam verließen die beiden Kinder das Haus.
Die Halle befand sich in einem dunklen, verlassenen Viertel, an dem sich viele zwielichtige Gestalten herumtrieben. Eigentlich hatten ihm seine Eltern verboten, diesen Teil der Stadt zu betreten, aber mit Angelina an seiner Seite fühlte er sich aus irgendeinem Grund sicher. Endlich erreichten sie ein großes, graues Gebäude, von dem der Putz abbröckelte und aus dem gedämpfte, schaurige Musik drang.
„Wir sind da“, verkündete Angelina und öffnete eine schwere Metalltür. Sie befanden sich in einem hohen, weiten Raum ohne Fenster, der grünlich beleuchtet wurde und in dem eine Menge Tische und Stühle standen. Auf der rechten Seite war ein riesiges Büffet aufgestellt worden, an dem sich allerlei verkleidete Gäste tummelten, und in der Raummitte ragte eine rundliche Bühne empor, auf der eine dreiköpfige Band spielte.
Marcel hätte beinahe laut aufgeschrien, denn sowohl der Sänger als auch der Schlagzeugspieler und der Gitarrist dieser Band war ein Skelett – „nein, natürlich nicht“, dachte Marcel und lachte über sich selbst, „natürlich sind sie nur als Skelette verkleidet.“ Doch auch die Kostüme der anderen Gäste waren mehr als schaurig. Viele hatten genau wie Angelina grüngelbe Haut und verfilzte Haare; manche hatten zottiges Fell und blutigrote, böse funkelnde Augen und aus den Köpfen mancher sprossen lange Fühler oder zusätzliche Körperteile wie Arme und Beine. Einer aus dieser Kategorie packte gerade mit einem kurzen Ärmchen, das an seinem Hinterkopf hing, ein Brötchen und steckte es sich in das große, blutverschmierte Maul. Marcel zitterte bei diesem Anblick, staunte aber gleichzeitig über die Echtheit dieser Verkleidung – wie hatten die Leute das hinbekommen?
„Ich wusste nicht, dass es ein Themenball ist“, raunte Marcel Angelina zu und schaute unglücklich an seinem Cowboykostüm herab. „Ich hätte mich auch als Monster verkleiden müssen, oder?“
„Nein, das ist schon in Ordnung“, versicherte ihm Angelina grinsend. „Komm, lass uns etwas essen.“
Sie erreichten gerade das Büffet, da setzte die Musik aus und das Publikum klatschte und jubelte begeistert.
„Meine Damen und Herren, das waren die Klappergestelle!“, verkündete der Moderator; ein kleiner, dicker Mann mit hellrot geschminktem Gesicht und kleinen, schwarzen Hörnern, die ihm aus der Glatze sprossen – ein ungemein echt aussehendes Teufelskostüm. „Freuen Sie sich auf eine weitere Darbietung ihrer hervorragenden Musik! Lassen Sie sich dabei das Büffet schmecken oder treten Sie vor auf die Tanzfläche, nur keine Schüchternheit! Gleich wird jeder von Ihnen eine Nummer ausgeteilt bekommen, die er sich bitte an das Kostüm heftet, und anschließend kann jeder abstimmen, welches Kostüm am heutigen Abend gewinnen soll! Doch jetzt weiterhin viel Spaß mit den Klappergestellen!“
Und die drei Skelette legten erneut los.
„Es gibt einen Kostümwettbewerb?“, fragte Marcel begeistert und schaute sich erneut um. Er fand alle Verkleidungen wahnsinnig toll, würde aber natürlich Angelina wählen.
Die beiden luden sich ihre Teller mit allerlei Leckereien voll: Es gab Würstchen mit Ketchup, die aussahen wie blutüberströmte Finger, Gebäckkugeln, die bemalt waren, damit sie wie blutunterlaufene Augäpfel aussahen und dunkelroten Traubensaft, der dickem, dunklem Blut erschreckend ähnlich sah.
Vergnügt und hungrig setzten sie sich an einen der Tische neben eine Frau, die sich als Zombie verkleidet hatte. Ihre Haut war grau und schälte sich an einigen Stellen ab, um blanke Knochen zu entblößen. Die Augen hingen weit aus den Höhlen heraus und schienen nur noch von zwei feinen, dünnen Fäden gehalten zu werden; dennoch bewegten sich die Pupillen der Augäpfel schnell und starrten Marcel feindselig an.
„Ich frage mich“, murmelte dieser und schaute rasch weg von der furchteinflößenden Frau, „wie die Leute diese Kostüme hinbekommen haben.“
„Sie geben sich an Fasching immer besondere Mühe“, antwortete Angelina und verschlang gerade schmatzend einen „blutigen Finger“, so wie die Würstchen hier hießen.
„Ich bin mal gespannt, wer den Kostümwettbewerb gewinnt“, sagte Marcel und wollte sich ebenfalls ein Stück seines Würstchens abschneiden, doch das Messer durchschnitt nur eine dünne Schicht und stieß auf irgendetwas Hartes.
„Was sind das denn für komische Würst-“ Marcel schrie so laut auf, dass die Klappergestellte schlagartig aufhörten zu spielen und das muntere Stummengewirr mit einem Male erstarb. Alle Köpfe wandten sich zu Marcel um, der aufgesprungen war und mit schreckgeweiteten Augen über seinem zerbrochenen Teller stand. Das Würstchen rollte über den Fußboden und blieb mit der Schnittstelle nach oben liegen, an der unter dem Fleisch ein blanker, weißer Knochen zu sehen war… das war kein Würstchen, sondern ein echter, menschlicher Finger mit einem widerlichen, gelben Fingernagel und einem Knochen.
„Marcel“, hauchte Angelina und nahm seine Hand. Eine angenehme Wärme durchfuhr ihn und auf einmal kam ihm die ganze Sache nicht mehr so schrecklich vor. Es konnte kein echter Finger sein, der eben noch auf seinem Teller gelegen hatte, dies hier war ein Kostümball und alle Sachen auf dem Büffettisch waren ganz gewöhnliche Lebensmittel.
„Schon in Ordnung“, krächzte Marcel den starrenden Schaulustigen zu, die langsam wieder zu sprechen und zu tanzen anfingen. Auch die Band spielte wieder.
„Es sah so aus, wie … wie ein echter Finger. Ich dachte nur…“, stammelte er und setzte sich zitternd neben Angelina an den Tisch. Die heraushängenden Augen der Zombie-Frau schienen ihn auszulachen.
„Aber Marcel“, sagte Angelina sanft, „Finger kann man doch nicht essen! Das sind nur Würstchen! Ich habe doch auch schon eines gegessen.“ Und jetzt schob sie sich wie zur Demonstration einen der Augäpfel in den Mund und zerkaute ihn mit leisem Knirschen. „Mmmh, schmeckt wie ein Marshmallow.“
Marcel fühlte, wie ihm langsam übel wurde und stand schnell auf, um zur Toilette zu laufen. Dort wusch er sich Gesicht und Hände mit kaltem, frischem Wasser und fühlte sich sogleich besser.
„Ganz ruhig“, sagte er zu seinem Spiegelbild und ärgerte sich gleichzeitig über sich selbst. Angelina musste ihn jetzt für den letzten Vollidioten dieser Welt halten! „Stell dich nicht so an“, sagte er seinem Spiegelbild wütend ins Gesicht. Und dann hätte er beinahe ein zweites Mal laut aufgeschrien, denn im Spiegel hinter ihm war eine Gestalt erschienen. Es war keiner der schaurig verkleideten Ballgäste, sondern ein kleiner, schlanker Junge von vielleicht neun Jahren mit braunen, schmutzigen Lumpen, zerzausten Haaren und dreckigem Gesicht.
„Wer bist du!?“, rief Marcel schrill und drehte sich herum. „Warum musst du mich so erschrecken?“
„Sie halten mich als ihren Sklaven“, antwortete der Junge in einer piepsigen Stimme. „Mich haben sie auch an einem Faschingsball geholt.“
Marcel starrte den Fremden ungläubig an. „Wer hält dich als Sklaven?“
„Sie“, erwiderte der Knirps, „die Monster.“
Einen Moment lang starrten sich die beiden Jungen einfach nur stumm an, dann lachte Marcel, doch es war ein falsches, blechernes Lachen, „das sind keine Monster. Das sind doch bloß Kostüme!“
Der Fremde schüttelte den Kopf. „Nein. Es sind Monster. Mich haben sie als Sklaven behalten, aber dich brauchen sie nicht mehr als Sklaven.“
Da der Junge schwieg, fragte Marcel herausfordernd: „Und was wollen sie mit mir anfangen?“
Der Kleine zögerte und biss sich auf die Unterlippe, bevor er flüsterte: „Sie wollen dich essen.“
Das reichte Marcel. Er schnaubte und stürzte schleunigst aus der Herrentoilette, um in den Ballsaal zurückzukehren. Dieser Junge hatte sie doch nicht mehr alle! Er konnte doch nicht im Ernst glauben, dass diese Leute echte Monster waren!
„Marcel? Hier!“ Angelina stand auf der Tanzfläche und winkte ihn zu sich.
Wie schön sie doch trotz der grün angemalten Haut und der verfilzten, violetten Haaren war…
Im Laufe des Abends vergaß Marcel sein schauriges Erlebnis mit dem Würstchen und vergaß sogar den kleinen, dünnen Jungen, den er auf der Toilette getroffen hatte. Die Kürung des besten Kostüms stand nämlich kurz bevor, da jeder Gast seine Stimme abgegeben hatte und nun nur noch ausgewertet werden musste, für wen die Mehrheit gestimmt hatte.
„Ich wette, du gewinnst“, sagte Marcel an Angelina gewandt, aber sie schüttelte lächelnd den Kopf.
„Das glaube ich nicht.“
Plötzlich wurde es stockfinster in dem Raum und die Musik der Klappergestellte verstummte. Dann startete der Schlagzeuger der Band einen leisen Trommelwirbel und ein einziger, weißer Lichtkegel flitzte durch die Tischreihen und tauchte jeden der Gäste einmal ganz kurz in helles, gleißendes Licht.
„Die Entscheidung ist gefallen“, verkündete der Moderator mit den Teufelshörnern, „wir haben einen Gewinner des Kostümfestes. Wenn ich seine Nummer gleich aufrufe, dann möchte ich ihn bitten, zu mir nach vorn zu kommen, damit er seinen Preis in Empfang nehmen kann.“
„Was für ein Preis mag das sein?“, fragte Marcel neugierig und beobachtete den Lichtkegel, der noch einmal durch alle Tischreihen streifte. Der Trommelwirbel wurde schneller und als der Schlagzeuger schließlich zu einem finalen Schlag ausholte, blieb der Lichtstrahl auf Marcel gerichtet stehen.
„Die Nummer 35!“, donnerte der Moderator in sein Mikrofon und die Menge jubelte auf.
„Na geh schon!“, wisperte Angelina und stieß Marcel in die Seite.
„Ich?“, fragte er ungläubig? „Aber mein Kostüm ist doch-“
Aber der Moderator hatte Marcel schon am Ärmel gepackt und nach vorn auf die Bühne geschleift.
„Meine Damen und Herren, der Gewinner unseres heutigen Abends! Applaus für die Nummer 35, den Cowboy!“
Wieder jubelten alle und obwohl Marcel verdutzt war über seinen überraschenden Gewinn, fühlte er sich großartig, da auch Angelina begeistert klatschte.
„Und nun“, redete der Moderator weiter, „kommen wir zu deinem Preis.“
Der Trommelwirbel setzte wieder ein und Marcel wartete gespannt darauf, dass er irgendeinen Pokal oder einen Geldcheck überreicht bekam, doch stattdessen wurde er plötzlich von einer kalten, klebrigen Masse übergossen.
„Hey! Was soll das?“, schrie er wütend und sprang beiseite, doch die Flüssigkeit hatte schon all seine Kleider durchnässt. Sie roch scharf und würzig wie Bratensoße, war jedoch von einer ungesunden, blassgrünen Färbung.
„Unsere Lieblingssoße! Und jetzt, liebe Freunde!“, rief der Moderator und alle Gäste erhoben sich wie auf Knopfdruck, auch Angelina, „werden wir unseren Preis genießen. Denkt daran, was wir vereinbart haben – jeder bekommt ein Stück ab.“
Noch bevor Marcel wusste, wie ihm geschah, hatte ihn eines der Monster zu Boden gerissen und fletschte seine scharfen, spitzen Zähne. Marcel, von Todespanik ergriffen, schlug wild um sich und packte das, was er als erstes zu fassen bekam. Es war das Bein eines der Skelette, das, so dämmerte es ihm jetzt, ein echtes, lebendes Skelett war. Er zog daran und schaffte es, einen Knochen zu lösen. Das nun unvollständige Skelett stürzte und zerschellte mit einem markerschütternden Klirren am Boden, und Marcel schlug mit dem Knochen blindlings auf die Angreifer ein, die sich nun von allen Seiten auf ihn stürzten.
„Angelina!“, schrie er, „Angelina!“
Doch auch sie hatte ihre langen Reißzähne gefletscht, die genauso wie die grüne Haut und das violette Haar echt waren, und schaute ihn mitleidig an. „Es tut mir so leid, Marcel. Aber wir Monster brauchen einmal im Jahr Frischfleisch. Das ganze Jahr über müssen wir uns als Menschen verkleiden, doch an Fasching können wir so sein, wie wir wirklich sind. Ich bin mir ganz sicher, dass du köstlich schmeckst.“
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