Der einsame Talib

Verfasst ca. 2005

Safrangelb liegt die Wüste vor uns.
Die Hügel als flackernde, brennende Hüte am Horizont.
Hinten, wo der Himmel sengend mit der Erde verschmilzt.
Kein Übergang.
Keine Trennlinie.
Eine flüssige, bewegliche Masse.
Wellen, die sich zum Himmel strebend aufbäumen oder sich hinten an den Gipfeln der Dünen brechen.
Der heiße Sand unter den Füßen wie flüssiger Lehm.
Fühlt sich zäh an, ist aber ganz locker, ganz fein.
Rinnt durch die Zehen wie durch eine Sanduhr.
Bernsteinfarben breitet sich die Wüste in alle Himmelsrichtungen aus.
Manchmal ein Fleck wie kochender Schwefel.
Der Himmel nicht azur, nicht türkis.
Der Himmel wie eine Kuppel aus Amethyst.
Vereinzelt Wolken wie Schaumkronen auf dem Meer.
Fetzen von Seide, die auf dem Wasser treiben.
Sahne, die in der Hitze schmilzt.
Wolken wie Schnee? Ich habe niemals Schnee gesehen.
Manchmal versuche ich mir vorzustellen, alles um mich herum wäre nicht Sand, Staub, Stein, Geröll und Fels, sondern wäre Eis, glitzernd wie Bergkristall, wie ein durchsichtiger Diamant.
Schnee, fein und kalt, an den verhornten Füßen kaum ein Unterschied spürbar zum heißen Sand.
Nicht kupferrot versinkt die Sonne in der flüssig flackernden Wüste; stirbt nicht rostbraun hinter der breiigen Hügelmasse.
Veilchenblau erstarrt sie in der Eislandschaft an einem Himmel wie Magnesium.
Ihr Schein wie Licht aus Elfenbein, wie Strahlen aus Jade.
Hier: Blutigrote Dämmerung, ein Licht wie Jaspis.
„Oh, how beautiful“, sagt einer der beiden Touristen, es ist die Frau. Sie haben mir Geld gegeben für die Tour, viel zu viel Geld, ich habe sie betrogen. „Is the desert always so beautiful?“
„It is always bloody hot, y’know“, sage ich. Sie verstehen meine Anspielung nicht und lachen.
Am Boden jetzt vereinzelte Steine, dunkel wie geronnenes Blut.
Talib heißt der Suchende. Ich suche ja, aber nach was?
Heißer Wüstendwind im Gesicht, selbst er gelb wie ocker.

Copyright: Meike Mittmeyer-Riehl, 2005
Keine Weitergabe oder Vervielfältigung ohne ausdrückliches Einverständnis der Autorin!

Beitragsfoto: Die Wüste bei Swakopmund, Namibia, aufgenommen von Meike Mittmeyer-Riehl im Jahr 2018

Veröffentlicht von Meike Mittmeyer-Riehl

Mein Name ist Meike, ich bin Anfang 30 und komme aus Südhessen. Ich bin Journalistin und arbeite derzeit halbtags als Pressesprecherin einer Kommune und nebenher freiberuflich für die Zeitungen im VRM-Verlag. Ich liebe es, durch die Welt zu reisen, Neues zu entdecken, in Pfützen zu springen, stundenlang in die Sterne zu schauen, bei Rockkonzerten laut mitzusingen und meine Katze zu streicheln.

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