Morgens im Bus

~1~

Tag 1: Montag

Die Sonne ist noch nicht ganz aufgegangen an diesem kalten Morgen im Spätherbst.
Eine dünne Eisschicht glänzt im Schein der Laternen auf dem Asphalt der Straße und spiegelt die Lichter merkwürdig verzerrt wider.
Der Himmel ist tiefblau gefärbt; nicht schwarz wie in der Nacht und nicht blau wie an schönen, klaren Sommertagen im Juli oder August, sondern dunkelblau wie eine Mischung aus diesen beiden Farben, eine wunderschöne Mischung, die von einem Künstler stammen könnte.
Einem Künstler, der ein feines Gespür für Farben besitzen muss, da das dunkle Blau zur Erde hin immer heller wird – nur eine Nuance, aber gerade genug, um es sehen zu können.
Direkt am Horizont, dort, wo die Erde fließend in den Himmel übergeht, befindet sich ein schmaler, weißer Strich, nicht dicker als der Strich eines wahnsinnig feinen Pinsels, den der Künstler genau dort angesetzt hat, um zu zeigen: Das ist die Trennlinie zwischen Himmel und Erde, zwischen Traum und Wirklichkeit.
Ich würde gerne auf diesen hellen Strich zulaufen, so lange, bis ich ankomme und doch nicht da bin.
Denn es ist keine Trennlinie, es sieht nur so aus.
Es ist wie auf dem Meer: Immer wenn man meint, Schiffe am Horizont verschwinden zu sehen, findet man sie wieder, wenn man schnell hinterherfährt, und plötzlich ist da wieder ein neues Stück Horizont noch weiter hinten, das man ebenfalls niemals erreichen wird.
Es ist ein unendlicher Zyklus, denke ich bei mir, es hört niemals auf, aber es hat auch nie begonnen.
Alles hat ein Ende, sagt man, aber die Erde, die hat keines.
Zumindest nicht, wenn man immer und immer nur geradeaus weitergeht, dem Horizont entgegen… vielleicht ist es mit dem Leben ganz genauso.

Genre: Roman(fragment)

Verfasst: etwa 2004 (im Alter von ca. 17 Jahren)

Ich lausche der Stille des hereinbrechenden Morgens, unterbrochen von dem Klappern der Rollläden, die hier und da hochgezogen werden, von dem Brummen der Motoren, die warmlaufen, und von dem Schrappen der Eiskratzer auf den gefrorenen Autoscheiben.
Früher habe ich nie so intensiv auf diese Geräusche geachtet, sie waren einfach immer da gewesen; so wie das abendliche Rot der untergehenden Sonne immer da war, und wie das Pfeifen des Windes, das Heulen des Regens oder das Ziehen der Wolken am grauen Winterhimmel…
Jeden Tag sind all diese Ereignisse einzigartig, denn das Abendrot ist nie dasselbe, die Melodie des Windes ist jedes Mal eine andere und kein Regentropfen gleicht dem Zweiten. Jede vorüberziehende Wolke gibt es nur einmal auf der Welt, nur ein einziges Mal für einen kurzen Moment, bevor sich die Wasserteilchen wieder neu zusammensetzen und zu formen beginnen, um eine einzigartige, individuelle Gestalt zu schaffen, die nie wieder genau in dieser Zusammensetzung irgendwo anders auf dem Planeten auftauchen wird.
Genauso ist es mit den Geräuschen und Eindrücken, die mir jeden Morgen begegnen, wenn ich zur Bushaltestelle gehe.
Jeden Tag fahren andere Autos an mir vorbei, jeden Tag treffe ich andere Menschen auf der Straße, manchmal auch gar keine, und jeden Tag sieht der Himmel anders aus.
Es kommt mir so vor, als wäre er heute ganz besonders schön.
Vielleicht geht es mir aber nur so, weil ich vorher nie darauf geachtet habe.

In einiger Entfernung vor mir geht noch eine Gestalt, die ich nicht genau erkennen kann; ich sehe nur ihre vagen Umrisse im schummrigen Schein der Laternen.
Wer ist es, ein Mann, eine Frau, ein Kind?
Ich gehe einen Schritt schneller und bin bald nur noch wenige Meter von der Gestalt entfernt, die ich nun, da ich so nah bin, als alten, krumm gehenden Mann erkennen kann. Er stützt sein Gewicht bei jedem Schritt auf einen krummen Holzstock, der klack klack klack macht, wenn er den Boden berührt.
Nach einiger Zeit bleibt der Alte plötzlich stehen, das Klappern seines Stockes verstummt, und er dreht sich um, um sich etwas rechts neben sich an einer Hauswand anzusehen.
Ich stoppe ebenfalls und schaue nach, was der Mann so interessiert betrachtet: Aha, es ist einer dieser Schaukästen, die die Gemeinde aufstellt und in denen Todesanzeigen veröffentlicht werden.
Ich weiß, dass so ein Schaukasten an dieser Stelle steht, aber ich habe gerade nicht daran gedacht. Jetzt, da ich mich wieder erinnere, fällt mir auf, dass ich bisher nur alte Leute gesehen habe, die an diesem Schaukasten stehen geblieben sind, um die Todesanzeigen zu studieren.
Ich habe noch nie einen 20jährigen oder einen Gleichaltrigen gesehen, der dort stehen geblieben ist und die Namen der armen Seelen gelesen hat, die kürzlich verstorben sind.
Im Moment kann ich nicht sagen, ob das nur ein Zufall ist oder ob ich vielleicht einfach nicht gut genug aufgepasst habe – oder ob es eventuell auch normal so ist.
Ich ertappe mich dabei, eine Theorie aufzustellen: Die Alten lesen die Todesanzeigen, weil es sie interessiert, und es interessiert sie, weil sie sich bereits selbst innerlich auf das Sterben vorbereiten.
Wie alt mag dieser krumme Herr da vorn sein, dessen Profil ich nun, da er seitlich zu mir steht, genau erkennen kann?
80?
85?
Er weiß, dass er nicht mehr lange lebt, obwohl es natürlich auch möglich sein kann, dass er 100 Jahre alt wird.
Trotzdem liest er die Todesanzeigen ganz genau und denkt sich: Bald werde ich hier auch drinstehen. Und er geht weiter, nicht betrübt, sondern beruhigt, dass so jeder von seinem Tod erfahren wird und er nicht heimlich, still und leise einen Abgang macht.
Und die jungen Leute?
Sie denken nicht gerne an den Tod, ich weiß das, denn ich habe es auch nie gerne getan.
Man möchte leben, leben um jeden Preis, Erfahrungen machen, gute und schlechte, man möchte, wie alle immer so schön sagen, sein Leben leben.
Deshalb habe ich noch nie einen jungen Menschen an diesem Schaukasten stehen sehen, junge Menschen sind noch nicht auf das Sterben vorbereitet…

Der alte Mann ist inzwischen weitergehumpelt und auch ich setze meinen Weg fort. Beim Vorbeigehen am Schaukasten verharre ich kurz, werfe einen flüchtigen Blick auf die Namen, die dort stehen, und lächle: Eine 83-jährige Bettina Stumper ist gestorben, und ein 91-jähriger Franz Klausmann. Schön für Bettina und Franz, denke ich bei mir, sie hatten sicherlich lange, schöne und erfüllte Leben gehabt. Und das Leben, das sie jetzt erwartet, wird sicher nicht viel schlechter sein: Vielleicht sind die beiden gerade dort oben in dem unendlich dunklen Blau des Himmels und tanzen; und ihr Lachen kommt als heller Sonnenstrahl oder als Regenschauer oder vielleicht als Schneegestöber hinab auf die Erde…

Der alte Mann biegt an der nächsten Straßenkreuzung ab und verschwindet in der Dunkelheit des frühen Morgens; ich werde ihn wohl nie wieder sehen.
Noch nie in den vielen Jahren, die ich hie entlanggehe, bin ich ihm begegnet, außer heute, an diesem einzigartigen Tag, der sich niemals wiederholen wird.
Und ich weiß, dass die Wahrscheinlichkeit gering ist, ihn in den nächsten Tagen wiederzutreffen.
Mach’s gut, alter Mann, denke ich lächelnd, ich hoffe, du hast noch ein langes Leben.

Ich erreiche meine Bushaltestelle wie jeden Morgen ein paar Minuten zu früh, manchmal sind es fünf, manchmal drei.
Im Busfahrplan steht als Abfahrtszeit 7.45 Uhr, aber ich kann mich nicht erinnern, dass der Bus jemals um genau diese Zeit gekommen ist.
Meistens fährt er um 7.47 Uhr ein, um etliche Leute aus- und einige einsteigen zu lassen.
Es ist auch schon passiert, dass er um 7.43 Uhr da war. Wenn das der Fall ist, muss er zwei Minuten warten, bevor er weiterfährt, falls noch Fahrgäste kommen, die sich auf die Zeit im Plan verlassen.
Jeder Tag ist individuell und jeder einzelne ist in seiner Individualität auch irgendwie faszinierend – manche Dinge allerdings wiederholen sich von Tag zu Tag.
Ich treffe nämlich jeden Morgen an meiner Bushaltestelle dieselben Menschen, die auch heute bereits frierend dastehen, als ich eintreffe. Hin und wieder stehen noch andere Leute dabei, die ich nur einmal sehe und dann nie wieder.
Diese drei jedoch treffe ich jeden Tag, ohne auch nur das Geringste über sie zu wissen.
Da ist einmal dieser kleine, dünne Mann mit Wollmütze auf dem Kopf und einer schiefen Brille auf der Nase, der eine hellgrüne Jacke trägt und eine schwer aussehende, schwarze Ledertasche über der Schulter hat. Sein Gesicht ist nie ganz glatt rasiert; man erkennt immer einige kurze Bartstoppeln an Kinn und Oberlippe, vielleicht ist es Absicht, vielleicht kann er es einfach nicht besser.
Neben dem Mann entdecke ich das kleine Mädchen mit dem dicken Schulranzen, der fast größer ist als es selbst. Manchmal steht es einfach nur da und starrt ins Leere, manchmal liest es in einem Buch, was es auch heute tut. Ich kann nicht erkennen, um was für ein Buch es sich dreht, denn es ist viel zu dunkel.
Wie kann das Kind bei dieser schummrigen Beleuchtung denn lesen?
Die kleinen Augen des Mädchens huschen schnell über das Papier und es blättert sorgfältig eine Seite nach der anderen um.
Die kinnlangen, hellbraunen Haare fallen ihm dabei locker ins Gesicht, selbst wenn es sie alle zwei Sekunden hinters Ohr streicht.
Und dann ist da noch die dicke Frau mit den Einkaufstaschen, die allesamt leer sind. Wahrscheinlich fährt sie mit dem Bus in die Stadt, um dort einzukaufen. Sie trägt einen langen, schwarzen Mantel, der ihr beinahe bis zu den Füßen reicht und sie bestimmt am Gehen hindert. Ihre Haare sind immer zu einem festen Knoten nach hinten gebunden, wären offen aber bestimmt wahnsinnig lang und schön.
Die Frau ist dunkelhäutig, nicht braun, nicht schwarz, sondern nur leicht bräunlich, vielleicht ist sie Türkin oder Spanierin.
Ich weiß es nicht, denn ich habe sie noch nie ein Wort sprechen hören, ich habe sie alle noch kein Wort sprechen hören, so lange ich gemeinsam mit ihnen hier auf den Bus warte.
Ich frage mich manchmal schon, was diese einzelnen Personen machen, wenn sie zuhause sind: Wo wohnen sie, was für Hobbys haben sie, was essen sie gern und an was denken sie, wenn sie abends im Bett liegen und die leere Decke anstarren?

*

Zwei Minuten später rollt der Bus aus der Dunkelheit heran.
Seine Scheinwerfer sind rund und gelb, so wie die Augen eines gefährlichen Wesens, das in der Dunkelheit auf sein Opfer wartet und sich heranschleicht, um es anzugreifen.
Leute strömen aus den Hintertüren des Gefährts, sobald es an den Bordstein gefahren und mit rasselndem Motor stehen geblieben ist.
Ich warte, bis der Mann mit der grünen Jacke und die ausländische Frau mit den leeren Einkaufsbeuteln eingestiegen sind, um mich dann hinter dem kleinen Mädchen in die Schlange einzureihen.
Es ist unglaublich, denke ich bei mir, das Mädchen liest noch immer ungerührt in seinem Buch, ohne auch nur einmal aufzuschauen. Selbst als es die hohen Stufen des Busses hinaufsteigt und dem Fahrer geistesabwesend ihren Fahrschein entgegenhält, hört es nicht auf, seinen scheinbar unheimlich spannenden Roman zu studieren.

Normalerweise setze ich mich immer allein an einen Platz am Fenster, lege meine Tasche auf den Sitz neben mir und lehne mich an die Glasscheibe, um nach draußen zu sehen, während der Bus weitere Haltestellen passiert und Passagiere ein- oder aussteigen lässt.
Heute jedoch nehme ich den Platz neben dem kleinen Mädchen mit seinem Buch ein und habe gleich eine ganz andere Sicht auf die Dinge.
Komisch, dass ich noch nie zuvor neben diesem Kind gesessen habe… wie alt mag es sein?
Vielleicht 9?
Oder 10?
Inzwischen hat sich der Himmel draußen dunkelgräulich-grün gefärbt, eine neue Farbkombination des Malers, der irgendwo dort oben sitzt und dem der Himmel eine riesige Staffelei bietet, auf der er sich austoben kann, um Farben, Eindrücke und Emotionen freien Lauf zu lassen.
Helle Wolken verdecken die gerade aufgehende Sonne, die hinter der dichten Schicht verborgen ein goldenes, milchiges Licht verstreut, das nur teilweise zur Erde hindurchsickert. Einen Moment lang bin ich fasziniert von der Färbung des frühmorgendlichen Himmels, der sich so rasend schnell verändert hat und den man nicht aufhalten kann in seinen Veränderungen; der sich gnaden- und erbarmungslos weiter verändern wird, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass es Menschen wie mich gibt, die sich wünschen, dass die Zeit niemals vergeht… Dann richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das kleine Mädchen neben mir und frage: „Das Buch ist wohl gut, hm?“ Ich muss einige Sekunden lang auf eine Reaktion des Mädchens warten, das – scheinbar sehr überrascht darüber, dass ich es angesprochen habe – irritiert aufschaut.
„Ja“, antwortet es.
Seine Stimme ist sehr dünn und piepsig.
Es redet nicht viel, ist mir sofort klar, es hebt sich seine Worte für etwas Besseres auf.
Es ist nicht eines dieser Mädels, die stundenlange Telefonate führen oder die plappernd mit ihren Freundinnen durch die Innenstadt laufen.
Es ist einsam, fühlt sich mit der Welt da draußen vielleicht überfordert…
Ich mustere das Profil der Kleinen; die schmale Stirn, die winzige Stupsnase gesprenkelt mit einigen Sommersprossen, die spitzen Wangenknochen, die in einen kleinen, dünnen Hals münden-
Als das Kind merkt, dass ich es anschaue, wendet es sich peinlich berührt zum Fenster und liest weiter.
„Liest du gerne?“, frage ich
„Ja“, erwidert das Mädchen, diesmal ohne mich anzusehen. Ich habe nur ihren Hinterkopf im Blickfeld, der mit feinem, braunem Haar bewachsen ist. „Es ist das einzige, was ich kann.“
Ich wundere mich über diesen Zusatz in einer schweren, beinahe ein wenig reumütigen Tonlage.
„Was? Du kannst doch sicher noch so viele andere Sachen!“, stoße ich aus und muss lachen.
„Nein“, antwortet das Kind ernst. Und noch viel ernster fügt es hinzu: „Ich kann ja noch nicht mal wachsen.“ Es seufzt, klappt sein Buch zu und setzt sich wieder gerade hin, sodass ich das Gesicht des Mädchens von der Seite sehe. Ich kann außerdem den Titel des Buches erstmals entziffern, es ist „Der kleine Prinz“. In der rechten unteren Ecke des Märchens klebt ein Namensschild mit der Aufschrift „Vivian Linker, Klasse 6e“.
Ich nicke resigniert, fast als hätte ich niemals etwas anderes erwartet als den kleinen Prinzen in den Händen des fremden Mädchens; den kleinen Prinzen, auf dessen rechter unterer Ecke ein Schildchen mit dem Namen Vivian Linker steht.
Dann richte meinen Blick wieder auf Vivians Augen und merke, dass sie kaum Ausdruck haben.
Vorhin an der Haltestelle haben sie noch traurig gewirkt; jetzt jedoch sind sie einfach nur blau und glänzen matt im Schein des morgendlichen Himmels.

An der nächsten Haltestelle verlässt Vivian den Bus und mir wird klar, was sie mit ihrer letzten Äußerung gemeint hat… dafür, dass sie bereits in der sechsten Klasse ist, ist sie tatsächlich sehr klein und dünn.
Es ist fast so, als wäre ihr Kopf viel zu groß für den Rest ihres Körpers; für diese zierlichen, fast puppenhaften Arme und Beine, die aus Porzellan sein könnten, und für dieses winzige Stückchen Hals, diese schmalen Schultern, die einen wahnsinnig schweren Ranzen tragen müssen…
Das arme Kind trägt das Gewicht der Welt auf seinen zerbrechlichen Gliedern…
Kurz bevor die Türen des Busses zuschnappen, springe ich ebenfalls heraus auf den rauen Asphalt des Gehweges, um Vivian in einigen Metern Abstand zu folgen.
Sie geht schnell, fällt mir dabei auf, sehr schnell, ich bin bereits nach ein paar Metern außer Atem.
Aber halt, das bin ich ja selbst, wenn ich sehr langsam gehe…
„Ausruhen“, hat der Arzt ernst gesagt, ich solle mich ausruhen.
Keine Zeit, Herr Doktor, ich muss einer kleinen Vivian aus der 6e das Gewicht von ihren zarten Schultern nehmen…

Unsere Reise endet vor einem hohen, grauen Gebäudeblock, der, umsäumt von einigen vertrockneten Büschen und Bäumen, trostlos und beängstigend wirkt. Der Verkehrslärm ist hier nur noch aus der Ferne zu hören; die schmale Straße, die die Schule ein mal komplett umrundet, wird nur selten von Autos befahren.
Es ist komisch, wie sehr sich dieser Ort seit meiner eigenen Schulzeit verändert hat.
Ich bin seitdem nie wieder da gewesen – ein Fehler, wie sich herausstellt.
Wäre ich ein paar Jahre nach dem Verlassen der Schule hergekommen; wäre ich stolz, hoch erhobenen Hauptes und aufrechten Ganges erschienen, um meinen alten Lehrern als gestandener, arbeitender Erwachsener gegenüberzutreten, dann würde dieser Ort jetzt vielleicht nicht so trist und grau wirken, ganz im Gegenteil, er würde strahlen…
Ich hätte einen Zauber heraufbeschwören können und ich bin traurig, es nicht getan zu haben, als ich noch die Chance dazu gehabt habe…

Zahllose Kinder strömen durch die zwei breiten, geöffneten Türen ins Innere der Schule; mit ihren blauen, gelben, roten, weißen und lilafarbenen Kleidungsstücken sind sie die einzigen Farbtupfer in dieser trostlosen Gegend.
Vivian schließt sich niemandem von ihnen an. Sie läuft schnurstracks weiter, ohne sich umzusehen, ohne von ihrem geradeaus gerichteten Weg abzuweichen, ohne sich abdrängen zu lassen.
Sie ist ein tapferes Mädchen, denke ich bei mir und lächle, als das Kind sich in die Menge presst, um ebenfalls durch den Eingang in das Schulgebäude zu gelangen.
Nach ein paar Minuten kehrt Ruhe ein auf dem Schulhof der Theodor-Fontane-Gesamtschule; nur hin und wieder eilen Kinder mit roten Gesichtern an mir vorbei, die verschlafen haben und nun schleunigst in ihre Klassen rennen. Wahrscheinlich überlegen sie sich gerade in ihren kleinen Köpfen, wie sie sich bei ihrem Lehrer entschuldigen sollen… vielleicht malen sie sich auch gerade aus, was für eine Strafarbeit für die Verspätung auf sie wartet…
Ich setze mich auf eine wackelige, morsche Holzbank am Rande des Schulhofes und betrachte wieder die wunderbare Leinwand des Künstlers.
Da ist keine Spur mehr von Blau, kein wunderschönes, dunkles Schwarzblau mehr, das heute Morgen noch jeden Zentimeter des Himmels ausgefüllt hatte; außer einen ganz dünnen Streifen am Horizont, der weiß geblieben war.
Dort ist auch kein Graugrün mehr zu sehen; keine Sonne, die goldenes Licht hinter dünnen Schleierwolken verstreut, nichts, der Himmel ist nur weiß.
Ihn überzieht eine geschlossene Wolkenschicht, die nirgendwo ein Loch hat.
Nicht das winzigste Schlupflöchlein, durch das ich dringen könnte.
Der Himmel hat heute geschlossen, schießt es mir durch den Kopf. Heute kann es also nicht passieren…
Aber die Hölle, fällt mir dann ein, die Hölle hat nie zu.
In ihr ist immer ein Plätzchen frei für jene, deren Zeit abgelaufen ist, für jene, die nicht durch die weiße, geschlossene Wolkenschicht hindurch kommen, um in den blauen Himmel zu gelangen…

*

Es fängt gerade leicht an zu nieseln, als die Schulglocke zur Pause läutet und Scharen von Kindern auf den Hof strömen; die älteren, größeren, viel vernünftigeren Zehntklässler schieben ihre kleinen Mitschüler zur Seite, um sich in Grüppchen zusammenzustellen.
Es dauert nicht lange, bis ich Vivian gefunden habe: Der kleine, dünne Fleck entfernt sich sehr schnell von allen anderen Farbklecksen auf dem dunkelgrauen Asphaltboden und strebt eine ruhige, finstere Ecke des Schulhofes an, die unter dem dichten Blätterwerk mehrerer Kastanienbäume Schutz vor Nässe oder praller Sonne bildet.
Ich richte mich auf und ziehe beim Gehen die Blicke einiger skeptischer Schüler auf mich. Ich kann ihnen förmlich von den Augen ablesen, was sie sich bei meinem Anblick denken: „Zu alt für einen Schüler, aber zu jung für einen neuen Lehrer…“
Ich muss unwillkürlich lächeln, verliere dabei Vivian aber nicht aus den Augen.
Als ich langsam näher komme, erkenne ich ihre Umrisse klarer und sehe, dass sie wieder ihr Buch bei sich hat.
Sie liest konzentriert Zeile für Zeile durch, obwohl ich mir sicher bin, dass sie alles bereits auswendig kann.
Sie ist vernarrt in dieses Buch, sie muss es immer und immer wieder lesen, obwohl sie genau weiß, wie es endet. Es würde auch reichen, sich einfach nur ins Gedächtnis zu rufen, was in diesem Buch passiert, aber nein, es ist nicht dasselbe für Vivian, es ist nicht dasselbe Gefühl, es ist wie bei einem Lieblingsfilm, den man bereits mitsprechen kann, sich aber immer und immer wieder ansehen muss…
Das Kind bemerkt mich, als ich nur noch wenige Schritte von ihm entfernt bin. Einen Augenblick lang scheint es zu grübeln, ob es mich kennt und wenn ja woher, dann sagt es mit zarter, dünner Stimme: „Du warst doch heute Morgen im Bus?“
„Ja, richtig.“ Ich setze mich wie heute Morgen im Bus neben Vivian auf die kalte Steinbank unter den Kastanienbäumen und beobachte das rege Treiben auf dem Hof.
„Es ist schön hier. Früher, als ich noch auf diese Schule ging, bin ich auch gern hier gesessen und habe nachgedacht.“
„Du bist auch auf diese Schule gegangen?“ Es scheint, als hätte ich Vivians Interesse geweckt; sie hat ihren kleinen Prinzen zugeklappt und hält ihn mit beiden Händen fest, so als hätte sie einen äußerst wertvollen Gegenstand zu verteidigen. Ihre großen Augen sind auf mich gerichtet; sie muss sich sehr weit hoch beugen, um mich anzuschauen, sie ist so schrecklich klein und zerbrechlich…
„Du magst dieses Buch sehr gerne, oder?“ Ich deute auf das verschlissene Buch mit dem gelben Einband. „Lest ihr das in der Schule?“ Natürlich weiß ich die Antwort, noch bevor Vivian überhaupt den Mund aufmacht. Mir ist selbstverständlich klar, dass so etwas nicht in der Schule gelesen wird; in der Schule liest man Goethe, Shakespeare und Schiller; man liest die „richtige“ Literatur, die etwas hermacht; die kompliziert ist, denn nur wenn man etwas Kompliziertes liest, lernt man-
„Nein“, antwortet Vivian seufzend, „ich lese das nur so. Meine Mama hat es mir früher immer vorgelesen. Jetzt muss ich das selbst tun.“ Sie neigt ihren Blick auf den rauen Asphaltboden vor sich und sagt nichts mehr.
Das muss sie auch nicht, denn ich verstehe, was sie meint, was sie fühlt.
„Ich wünschte, ich könnte auch von Planet zu Planet reisen wie der kleine Prinz es tut“, sagt Vivian plötzlich unverhofft.
„Tja, das wünschen wir uns alle manchmal“, erwidre ich leise.
„Alles, was ich mir wünsche, geht nicht.“ Vivians Stimme klingt auf einmal sehr wütend und trotzig.
„Was wünschst du dir denn noch?“, will ich wissen.
„Ich wünsche mir-“ Das Kind schaut auf und begegnet meinem freundlichen Blick. Vivians Augen haben nun wieder einen Glanz; sie glänzen ängstlich, wie bei einer drohenden, sehr schnell herbeieilenden Gefahr.
Sie scheint gerade aus einer Art Trance zu erwachen.
„Ich muss jetzt gehen.“ Sie rennt flink davon und ich bleibe allein, ohne je zu erfahren, was Vivian sich noch wünscht…
Ich verstehe sie und bin im Grunde froh, dass sie diesen Schritt getan hat – gewiss hat ihre Mama, die ihr früher immer aus dem kleinen Prinzen vorgelesen hat, ihr gesagt, dass sie nicht mit Fremden sprechen solle. Bestimmt ist ihr diese Belehrung, die sich fest in ihr Gehirn eingebrannt hat, in dieser Sekunde wieder eingefallen und sie hat die Flucht im richtigen Augenblick ergriffen.
Ich schaue dem Mädchen nach, wie es quer über den bereits sehr leeren Schulhof läuft und kann nicht verhindern, was als nächstes passiert.
Es geht so rasend schnell, dass ich nicht einmal die Chance habe, aufzustehen – ein Mädchen, mindestens zwei Köpfe größer als Vivian und doppelt so breit, stellt sich ihr in den Weg. Vivian kann nicht mehr schnell genug bremsen; sie prallt gegen das große, breite Mädchen, wird zurückgeschleudert wie ein Flummi, den man gegen die Wand knallt, und landet hart auf dem Rücken. Ich sehe nur ein Buch im hohen Bogen durch die Luft sausen, das zwei Meter entfernt von Vivian aufschlägt.
Um die Szene herumstehende Kinder lachen; das große, breite Mädchen tritt auf das auf der Erde liegende Buch ein und rennt anschließend schneller davon als der Wind.
Das Lachen der Übeltäter hallt noch kurz an den Wänden des Schulgebäudes wider; es klingt ungewöhnlich laut, da das Kichern und Murmeln der anderen Schüler, die sich nicht mehr draußen befinden, verstummt ist, und dann kehrt eine dumpfe Stille ein, die alles übertönt.
Fassungslos schaue ich mich nach einem Zeugen um, der gerade das gleiche beobachtet hat wie ich – ein Lehrer, hier muss doch irgendwo ein Lehrer sein, der das gesehen hat!
Ich laufe los und erreiche die noch immer am Boden liegende und leise winselnde Vivian nach einer schier unendlichen Strecke.
Wieso bin ich nach ein paar Metern so sehr außer Puste?
„Alles o.k. mit dir?“ Ich gehe in die Knie, ziehe das kleine, zitternde Mädchen an den Armen hoch und schaue in sein bleiches Gesicht, das nur noch aus großen, blauen, ängstlichen Augen zu bestehen scheint.
„M-mein Buch“, wispert das Kind und tastet nach seinem kleinen Prinzen. Erst jetzt sehe ich, dass Vivian blutige Schrammen auf dem kleinen Stück nackter Haut ihres Unterarmes vorzuweisen hat, das nicht von der Jacke bedeckt wird.
„Haben die das schon öfter mit dir gemacht?“, frage ich atemlos und reiche dem Mädchen sein Buch herüber, das nass, dreckig und vollkommen zerfleddert ist.
Vivian betastet mit zitternden Fingern den gelben Einband, von dem kaum mehr als einige unförmige Papierfetzen übrig sind, und bricht in Tränen aus. Ihr Weinen ist herzzerreißend und so hell wie das Bersten von dünnem Glas; es wandert schallend durch meine Gehörgänge und mündet in meinem Herzen, das daraufhin ebenfalls zu zerschellen droht… ich möchte dieses kleine, zerbrechliche Wesen, das aufgelöst und heulend vor mir auf dem dreckigen, feuchten Boden sitzt, vor der großen, grausamen Welt da draußen schützen; und gleichzeitig möchte ich es hineinschubsen und ihm zeigen: „So ist das Leben.“
Behutsam lege ich Vivian einen Arm um die Schultern und richte das Kind auf. Die dünnen Beinchen beben und können das viel zu schwere Körpergewicht kaum tragen – sie drohen, jeden Moment nachzugeben.
„Wir müssen einen Lehrer suchen und ihm sagen-“
„Nein“, unterbricht mich Vivian fast panisch. „Ich muss jetzt gehen.“ Sie drückt sich ihr kaputtes Buch fest an die Brust, wischt sich flüchtig über das verheulte Gesicht und rennt los, diesmal langsamer und schwerfälliger als zuvor.
Der Schulhof ist inzwischen komplett leer, und als Vivian das Schulgebäude durch den Haupteingang betreten hat, bleibe ich allein zurück.
Es ist nicht auszuhalten, denke ich bei mir und bebe genau wie Vivian – allerdings vor Wut. Es ist einfach nicht zu glauben, dass man diesem kleinen, unschuldigen Wesen so etwas antut. Bevor ich richtig merke, was ich tue, steuere ich zielstrebig auf den Eingang der Theodor-Fontane-Gesamtschule zu und betrete das Gebäude, das ich seit Jahren nicht mehr von innen gesehen habe.
Die hohen Wände der Aula haben fast etwas Drohendes, Beängstigendes an sich; sie sind dunkel und kahl und merkwürdige Schatten wandern über sie, die von den vor den Fenstern leicht wehenden Bäumen stammen.
Gänge zweigen sich nach links, rechts und geradeaus ab. Ich zögere, wohin ich zuerst gehen soll; wo es wohl am wahrscheinlichsten ist, einen Lehrer zu treffen, als sich mein Problem von selbst erledigt: Ein schlanker, hochgewachsener Mann mit strengem Scheitel, spitzem Schnurrbart und eng beieinander stehenden Augen kreuzt meinen Weg, ohne mich beim Vorbeigehen eines Blickes zu würdigen.
„Hallo – Entschuldigung?“ Ich eile ihm nach und er bleibt so abrupt stehen, dass ich zusammenschrecke. „Gibt es an dieser Schule keine Pausenaufsicht?“
Der Mann mustert mich einige stille Augenblicke lang argwöhnisch, dann erwidert er sachlich: „Natürlich gibt es die. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
„Allerdings“, knurre ich, „da draußen ist gerade ein kleines Mädchen von einer älteren Schülerin verletzt worden. Und ihr wurde ein Buch zerstört.“
„Ein Schulbuch?“ Der Lehrer zieht seine dünnen, hellen Augenbrauen hoch.
„Nein, kein Schulbuch“, antworte ich scharf und werde immer wütender. Hätte es sich um ein Schulbuch gehandelt, wäre dieser Mensch wahrscheinlich sofort auf die Barrikaden gegangen – so rührt ihn die ganze Geschichte nur wenig.
„Wann ist das passiert?“, fragt der Mann höflich, als er meinen sauren Gesichtsausdruck richtig deutet.
„Vor einer Minute.“
„Nun, da war die Pause bereits vorbei“, antwortet er prompt, „der Unterricht hat bereits vor drei Minuten begonnen.“ Er deutet auf die große, runde Uhr über der Eingangstür, so als würde sie die Antwort auf alle Fragen der Welt sein.
„Das ändert aber nichts daran, dass das Mädchen verletzt wurde“, sage ich und merke erst jetzt, dass ich die ganze Zeit über äußerst laut und angriffslustig gesprochen habe.
„Wie lautet der Name des Kindes? Und wer war die Angreiferin?“, fragt der Lehrer ruhig.
„Aus irgendeinem Grund wollte das angegriffene Mädchen nicht zu einem Lehrer gehen. Können Sie sich das erklären?“ Ich trete einen Schritt auf den großen Mann zu, als wolle ich ihm damit drohen. Tatsächlich weicht er daraufhin einige Zentimeter zurück.
„Hören Sie, wenn Sie mir nichts Genaueres sagen, kann ich Ihnen nicht helfen… außerdem habe ich jetzt Unterricht. Wenden Sie sich bitte an das Sekretariat, den linken Flur runter auf der rechten Seite. Guten Tag.“ Der Lehrer nickt kurz und geht davon.
Ich kann sein Gesicht nicht mehr sehen, aber ich bin mir sicher, dass er gerade über mich die Augen verdreht. So ein verrückter, ausgeflippter Mensch, wird er denken, und ich werde mit diesen Problemchen belastet.
Ich bleibe kochend stehen und zögere.
Vielleicht ist es nicht gut, über Vivians Kopf hinweg zu entscheiden.
Ich kenne sie kaum.
Ich bin nicht für sie verantwortlich.
Und doch habe ich gerade etwas beobachtet, das nicht unbestraft bleiben kann!
Doch viel wichtiger als ein sofortiges, überstürztes Handeln ist, herauszufinden, weshalb Vivian sich nicht selbst an jemanden wendet… an irgendjemanden…

*

Die Schule endet um kurz nach eins und der Schulhof füllt sich rasend schnell mit Schülern, die laut schwatzend und gackernd ihren Heimweg antreten. Sie sickern aus dem Schulgebäude hinaus wie eine mehrfarbige, dicke Flüssigkeit aus einem Becher mit Loch im Boden.
Bald habe ich keinen Überblick mehr über die Masse und ich frage mich, wie ich in diesem Gewirr Vivian finden soll – also beschließe ich, einfach zu der Haltestelle zu gehen, an der sie am Morgen ausgestiegen ist. Sicher wird sie von dort aus nach Hause fahren.
Tatsächlich taucht nach einigen Minuten Vivians kleiner Kopf aus der Masse auf, der einen Krater in der Menge bildet, da er sich viel weiter unten befindet als die Köpfe der anderen Kinder, selbst die der Fünftklässler. Während Vivian sich zwischen ihren Schulkollegen hindurchzwängt, verschwindet sie öfters für ein paar Sekunden aus meinem Sichtfeld, taucht aber nach kurzer Zeit immer wieder auf – nur stehen bleiben tut sie nicht! Sie läuft zielstrebig an dem Schülerauflauf vorbei, auch vorbei an dem Haltestellenschild mit dem grün/gelben „H“, bis sie irgendwann aus dem Gedränge heraus ist und unbehindert ihren Weg fortsetzen kann. Sie merkt nicht, dass ich ihr lautlos folge… nach fünf Minuten erreichen wir einen kleinen Wald, hinter dem kilometerweit nur Felder, Wiesen und Acker zu sehen sind. Der asphaltierte, etwa drei Kilometer lange Weg führt in die nächste Kleinstadt, ist aber nur für Radfahrer, Skater und Fußgänger befahr- und begehbar. Angepflanzte Bäume in regelmäßigen Abständen spenden in den heißen, trockenen Sommermonaten Schatten auf der flachen Strecke, die dem glatten Meeresspiegel gleicht. Hier, außerhalb des Schutzes der Häuser, pfeift der Wind kräftig und ungehindert und bei der einen oder anderen Bö befürchte ich, dass die federleichte Vivian weggeblasen werden könnte.
Nach weiteren Metern biegt Vivian in einen kleinen Weg ein, der eigentlich gar keiner ist und mitten über eine kahle Wiese führt. Wenn man ihm folgt, gelangt man zu der einzigen Erhebung in dieser Gegend: Ein künstlich angeschütteter Erdhügel, der als Müllkippe für Bauschutt dient. Ein hoher, massiver Metallzaun soll Eindringlinge davon abhalten, illegal Schrott abzuliefern oder ohne Anmeldung auf das Gelände zu kommen, aber schon ich als Kind kannte die Schwachstelle des Zaunes, der auf der Rückseite der Mülldeponie eine Lücke bildet, die gerade groß genug ist, dass man hindurchschlüpfen kann.
Genau diese Stelle nutzt auch Vivian und kommt ohne den Zaun überhaupt zu berühren durch den Spalt. Als ich ihrem Beispiel folgen will, muss ich feststellen, dass doch einige Zeit vergangen ist, seit ich das das letzte Mal gemacht habe: Ich bleibe stecken und muss unheimlich ziehen und zerren, um endlich auf das staubige Gelände zu stolpern und beinahe der Länge nach hinzufallen. Durch den damit verbundenen Krach wird Vivian aufgeschreckt und dreht sich ruckartig zu mir um, offensichtlich betend, dass es kein Angestellter der Stadt ist, der sie ertappt hat und anzeigen will.
„Du?“, fragt das Kind erstaunt und sieht mir dabei zu, wie ich meine Jacke richte und dabei auf sie zugestapft komme.
„Früher hab ich da besser durchgepasst“, sage ich, als ich das Kind erreicht habe und trete an den Fuß des Berges, von dem aus es kontinuierlich bergauf geht.
Vivian zögert einige Augenblicke, dann folgt sie mir und schaut dabei nicht vor sich auf den losen, von Steinen und Porzellanscherben durchzogenen Boden, sondern auf mich.
Keiner sagt etwas, bis wir die Spitze des Hügels erreicht haben und schnaufend nach unten auf die Felder im Dunst blicken. Zur anderen Seite hinaus kann man die Stadt sehen, die als dunkler Fleck hinter dem kleinen Wald beginnt und sich bis zum Horizont hin ausbreitet.
„Ich bin hier früher gerne gewesen“, erzähle ich der sprachlosen Vivian, die mich noch immer anstarrt.
„Wer bist du eigentlich?“, fragt sie mich verdutzt.
„Nur jemand, der diesen Platz auch gern hat“, gebe ich grinsend zurück und lasse mich in den weichen Sand sinken. Vivian fällt neben mir in den Staub und wir schauen eine zeitlang gemeinsam nach unten. „Warum gefällt es dir hier?“, frage ich dann.
„Es ist einfach schön“, antwortet Vivian. „Es ist schön, größer zu sein als alles andere um mich herum.“
Ich nicke verständnisvoll und deute mit dem Zeigefinger auf die Stadt. „Man fühlt sich über das da unten erhaben, oder?“
Vivian seufzt und malt Schlangenlinien in den gelben Sand. „Ich möchte Ferien haben, dann bin ich fast jeden Tag hier.“
„Eigentlich möchtest du nur Ferien haben, weil du es dann nicht mehr jeden Tag ertragen musst, oder?“
Das Mädchen friert in seiner Handbewegung mit dem Finger durch den Sand ein und antwortet nicht. Sie weiß, dass ich Recht habe, denke ich heimlich, sie weiß es, aber sie will es nicht wahrhaben.
„Die anderen sollen nicht denken, dass ich schwach bin“, flüstert das Kind. Warum es so leise spricht, weiß es wahrscheinlich selbst nicht. Es richtet sich auf, dreht sich um und geht davon.
Ich bleibe noch eine Weile auf dem Müllberg sitzen und schaue hinunter auf die Landschaft und den Weg, der sich geschmeidig wie eine braune Schlange über die flachen Felder windet und sich irgendwo am Horizont verliert.

~2~

Tag 2: Dienstag

Der nächste Morgen ist kalt und regnerisch.
Er hat eine schwarze, tiefe Färbung, als ich das Haus verlasse und vergeblich nach dem Halbmond oder ein paar winzigen, leuchtenden Sternen suche.
Heute gibt es keinen angedeuteten Übergang zwischen Himmel und Erde; heute scheint alles eins zu sein, wie aus einem Stück gefertigt, ohne Trennlinie, ohne hellere Nuancen, ohne Pinselstrich.
Der Künstler hat heute vielleicht frei…
Ich treffe niemanden auf meinem Weg zur Haltestelle und bin früher da als sonst.
Sofort entdecke ich den Mann mit der hellgrünen Jacke und die Frau mit ihren leeren Einkaufstaschen, die beide unter dem kleinen Plastikvordach der Haltestelle stehen, um Schutz vor dem Nieselregen zu suchen.
In ihren Augen glänzen die Lichter der Laternen und der hin und wieder vorbeifahrenden Autos.
Nach einigen Minuten löst sich Vivians dünne, kleine Gestalt aus der Dunkelheit heraus und als sie mich sieht, huscht ein Lächeln über ihre blassen Lippen.
„Hallo“, haucht sie.
Der Mann und die Frau schauen überrascht auf, da es noch nie zuvor vorgekommen ist, dass sich jemand mit dem kleinen Mädchen unterhalten hat.
Ihr Interesse verliert sich jedoch schnell und sie fahren damit fort, vor sich hin in den leise fallenden Regen zu starren.
„Wie geht es dir?“, frage ich.
„Geht schon“, antwortet Vivian, doch ich kann ihr ansehen, dass sie nicht ehrlich ist. „Meine Mama hat geschimpft wegen dem kaputten Buch.“
„Aber du hast ihr doch sicher erzählt, dass du nicht Schuld daran bist, dass es kaputt ist?!“ Ich mustere Vivians Gesichtsausdruck eindringlich und sehe gleich, dass sie ihrer Mutter nichts von dem Vorfall erzählt hat.
Sie antwortet nicht, aber ich weiß es trotzdem.
„Meine Mama würde sofort in die Schule gehen und streiten. Ich will das aber nicht.“ Vivian lässt die Schultern hängen, vielleicht, weil ihr riesiger Schulranzen so schwer ist, vielleicht aber auch aus einem ganz anderen Grund.
Sie platscht mit der Fußspitze in eine glitzernde Pfütze, um sich die Zeit zu vertreiben und um mir nicht ins Gesicht blicken zu müssen.
„Aber es würde vielleicht helfen. Dich würde vielleicht niemand mehr angreifen!“
„Doch, das würden sie“, antwortet das Kind sofort, „das werden sie immer tun.“
„Meinst du, du kommst klar?“, frage ich noch, als der Bus bereits am Herbeirollen ist.
Vivian nickt schweigend und wir steigen hintereinander ein.
Ich warte, bis das Mädchen sich einen Platz am Fenster ausgesucht hat, nicke ihm aufmunternd zu und lasse meinen Blick dann über die Sitzreihen wandern, um den dünnen Mann mit der grünen Jacke, der Wollmütze und der schwarzen Ledertasche etwas weiter hinten zu erspähen.
Ich steuere auf ihn zu und nehme den Platz neben ihm ein, als der Bus gerade ruckend anfährt.
Meine Gedanken hängen immer noch an der armen Vivian und ich bin am Überlegen, mich doch zu ihr zu setzen, um ihr Kraft zu spenden. Als ich jedoch merke, dass mich der Mann neben mir ansieht, versuche ich, meine Grübeleien über Vivian vorerst zu verschieben, um nett zurückzuschauen.
„Schade, dass man heute keinen Sonnenaufgang sehen kann“, sage ich und der Mann begegnet mir mit einem überraschten Blick. Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie seltsam es Leute finden, von Fremden angesprochen zu werden…
„Tja. Ein scheußliches Wetter, oder?“, sagt der Mann und zieht sich die Wollmütze vom Kopf. Nur ein dünner, brauner Haarkranz umrahmt seinen ansonsten kahlen, glänzenden und irgendwie ovalen Kopf.
„Na ja“, erwidere ich, „irgendwie hat jeder Tag etwas Schönes. Man sieht es nur nicht auf den ersten Blick.“ Und ich schaue an ihm vorbei hinaus in das Schwarz des nassen Morgens.
Er folgt meinem Blick wenig später und zuckt die Schultern. „Ich kann dem heutigen aber nichts Schönes abgewinnen.“ Und er blickt wieder vor sich hin, vielleicht ein wenig beleidigt darüber, dass ich ihm nicht zugestimmt habe.
Er ist eine interessante Persönlichkeit, folgere ich aus seinem Verhalten, er ist schwer einzuschätzen – mal freundlich, dann mies gelaunt, mal lauthals lachend, dann grummelig und trübselig. Diese Art hat etwas Spannendes, da man immer wieder Neues an einem Menschen entdecken kann.

*

Die Fahrt dieses Mannes dauert länger als jede, die ich jemals mit diesem Bus gemacht habe. Ich sehe Vivian aussteigen, ein paar Haltestellen weiter die dicke Frau mit den leeren Einkaufstaschen und an den weiteren Stationen immer mehr und mehr Menschen.
Nur wenige steigen zu.
Neben einer kleinen, kahlen Parkanlage hält der Bus ein sechstes Mal und mir wird bewusst, dass meine heutige Fahrt hier endet.
Der Mann mit der hellgrünen Jacke stiehlt sich an mir vorbei, nickt mir freundlich zu und steigt aus. Als ich sicher sein kann, dass er nicht mehr hinter sich schaut, springe ich ebenfalls aus dem Bus und folge ihm.
Unser Weg führt vorbei an etlichen großen, pompös aussehenden Häusern – ja, es sind fast Villen. Wir sind in einem Teil der Stadt gelandet, durch den ich bisher nur einmal durchgefahren bin. Dabei habe ich nie wirklich realisiert, wie monströs und erdrückend diese Bauten aus der Ameisenperspektive wirken. Manche von ihnen türmen sich umsäumt von weiten, flachen Vorgärten mehrere Stockwerke in den Himmel empor, so als wollten sie sich durch möglichst viel Größe Respekt verschaffen. Zu manchen Haustüren führt ein Weg aus hellen Steinplatten, die an diesem grauen Regentag sehr hell strahlen und sich in die Netzhaut des Betrachters einbrennen. An vereinzelten Hauswänden rankt sich Efeu entlang, der so völlig nackt und braun armselig und trostlos wirkt und weder durch die Größe noch durch die teuer aussehenden Tür- und Fensterrahmen in irgendeiner Weise in seiner Hässlichkeit ausgeglichen werden kann.
Ich frage mich, was der Mann vor mir in solch einer Gegend will; er sieht mir nicht so aus, als wäre er so wohlhabend wie die Leute, die hier hausen.

Nach etwa zehn Minuten strammen Marschierens bin ich mal wieder vollkommen außer Atem, bleibe erschöpft stehen und halte mich an einer Straßenlaterne fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Diesen Menschen werde ich wohl nicht näher kennen lernen können, wird mir in diesem Moment klar, ich bin zu schwach, um ihm länger zu folgen.
Ich wische mir die Schweißperlen von der Stirn, schaue ein letztes Mal auf und bin überrascht, als ich realisiere, dass der Mann etwa zehn Meter von mir entfernt ebenfalls zum Stehen gekommen ist – er wartet vor einem hohen, schwarzen Metallzaun, der ein besonders großes und prächtiges Anwesen umrahmt, darauf, dass man ihn einlässt. Ich beobachte gebannt, wie sich die Metalltür von selbst öffnet und dem Mann freie Bahn lässt: Er zögert nur zwei Sekunden oder weniger, bevor er den schmalen Kiesweg betritt, der ihn zu einer breiten Haustür führt.
Besucht er dort jemanden?
Keuchend gehe ich ein paar Schritte weiter und kann gerade noch einen Blick auf den Mann erhaschen, dem von jemandem, dessen Gesicht ich auf die Schnelle nicht ausmachen kann, die Tür geöffnet wird. Als er im Haus verschwunden ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu warten, da ich ohnehin keine drei Meter mehr gehen kann.
Wie ich da so am Straßenrand stehe, verschnaufe und vorbeifahrende Wagen beobachte, kommen seltsame Fragen auf, die ich mir in der letzten Zeit verhäuft stelle:
Wo wollen all diese Menschen hin, die in ihren Autos sitzen und durch die Straßen fahren?
Und wann kommen sie an?
Was erwartet sie an ihrem Ziel?
Und wann kehren sie nach Hause zurück?
Während ich so versunken dastehe und nachdenke, merke ich überhaupt nicht, dass die Haustür der Villa, die der Mann aus dem Bus vor einiger Zeit betreten hat, wieder aufgeht. Heraus tritt eine kleine, dünne Gestalt mit grüner Jacke, die mehrere Abfallsäcke in den Händen hält und scheu zu den Mülltonnen eilt, die fünf Meter vom Haus entfernt stehen. Erst durch das Klappern der Deckel werde ich aus meinen Überlegungen gerissen und staune nicht schlecht, als ich beobachte, wie der Mann aus dem Bus die Plastiksäcke lautlos in die Tonnen gleiten lässt, sich forschend umschaut und vor Überraschung den Mund öffnet, als er mich erblickt. Eine Sekunde lang schauen wir einander einfach nur erstaunt an. Jeder staunt für sich über den jeweils anderen, bis der Mann als erster seine Fassung zurückgewinnt und an den hohen Zaun tritt, der mich vom Anwesen des prächtigen Hauses trennt.
„Haben Sie mich etwa verfolgt?“, fragt er und will vielleicht wütend klingen, hört sich aber eher an wie ein kleiner Junge, der seine Mutter schüchtern um Erlaubnis fragt, ob er noch etwas länger aufbleiben darf.
„Nein“, sage ich sofort, „so kann man das nicht nennen.“
„Und wie dann?“ Die Augen des Mannes sind klein und schmal und haben einen argwöhnischen Schimmer, den ich bisher bei noch keinem anderen Menschen gesehen habe. Seine Augen scheinen geradezu von innen heraus zu leuchten vor lauter Misstrauen…
„Ich habe nur beschlossen, die Menschen, mit denen ich tagtäglich zu tun habe und die ich doch irgendwie kein bisschen kenne, besser kennen zu lernen.“ Nach dieser Erklärung erscheinen die Augen des Fremden noch winziger und misstrauischer. Er späht in alle Richtungen und tritt einige Zentimeter vom Zaun weg. Die Gitterstäbe werfen jetzt schmale Schatten auf sein ovales Gesicht.
„Ich habe jetzt keine Zeit. Ich hab noch zu tun.“ Mit diesen Worten dreht er sich um und verschwindet blitzschnell im Haus, um die Tür scheppernd hinter sich zu schließen.
Er will sich vor mir schützen, geht es mir durch den Kopf, ich bin ihm auf irgendeine Art und Weise unheimlich. So etwas ist dem armen Kerl wohl noch nie passiert.
Ich lächle, wende mich wieder der Straße zu und wundere mich darüber, was ich gerade gesehen habe. Der Mann scheint in diesem Haus etwas wie eine Reinigungskraft zu sein… komisch, dass ich mit meiner sonst so guten Menschenkenntnis bei ihm so sehr danebenlag: Ich habe ihn für jemanden gehalten, der im Büro am Computer sitzt und Systeme administriert oder Programme schreibt.
Es ist bewundernswert, denke ich anerkennend, seine Arbeit ist respektwürdig und ehrenwert. Er ist keiner, der sich zu fein für solche Arbeiten ist; keiner, der Mülltüten nur mit Fingerspitzen anfasst und nicht weiß, wie ein Bügeleisen zu bedienen ist.
Trotzdem habe ich ihm diese Tätigkeit wirklich nicht angesehen…

*

Der Vormittag vergeht rasend schnell.
Ich bin inzwischen wieder bei Atem und bin die Straßen ein wenig auf- und abgelaufen, um zu orten, wo ich mich überhaupt befinde. Ganz in der Nähe gibt es eine Menge Cafés und Supermärkte, sogar eine Pizzeria habe ich erkundschaftet. Ein paar hundert Meter weiter hören die edlen Villen und Anwesen auf und weichen normalen, kleinen, aber sehr feinen Häusern, die gemütlich und warm wirken, obwohl heute solch ein frostiger, windiger Tag ist.
Die Wolken sausen schnell über den unruhigen Himmel; weiße, bauschige Wolken jagen graue, zerfledderte und umgekehrt. Es ist wie ein Schauspiel, denke ich mir, während ich die Leinwand des Künstlers betrachte, nur viel schöner, es gibt nämlich nicht einen einzigen wahren „Star“, da jeder Akteur nur einmal auftritt und dann blitzschnell vorbeizieht, um seinem Kollegen Platz zu machen.

*

Der Mann sieht geschafft und ausgelaugt aus, als er zum ersten Mal, seit er die Müllbeutel herausgetragen hat, das Anwesen verlässt. Ich bin weit weg genug, dass er mich nicht gleich sehen kann, um ihm zu ersparen, sich erneut so sehr vor mir zu erschrecken.
Er entfernt sich mit großen Schritten von der Villa und schon bald haben wir das Viertel mit den prächtigen Häusern hinter uns gelassen, um dort zu landen, wo ich mich eben bereits ein wenig umgeschaut habe: Eine Straßenkreuzung mit vielen Ampeln bietet den zahllosen Autos, Bussen und Lieferwagen Fahrmöglichkeiten in nahezu jede Himmelsrichtung, während geräumige Bürgersteige reichlich Platz für Fußgänger, Radfahrer und Skater bereitstellen, die in den Geschäften und Märkten am Straßenrand einkaufen wollen oder irgendwo anders hinmüssen.
Der Mann steuert zielstrebig auf ein kleines Eckcafé zu, über dessen Eingang der Name „West End“ prangt. Sicher ist er hungrig von seiner Arbeit in der Villa, was immer er dort auch getan haben mag, und will hier eine kleine Stärkung einnehmen.
Nachdem der Mann eingetreten ist, warte ich ein oder zwei Minuten vor der schmalen Glaseingangstür des Caféhauses, bevor ich ebenfalls hineingehe.
Eine dicke, stickige Luft stößt mir entgegen, in der der Duft nach Kaffee, Gebäck und Zigarettenqualm hängt. Der Raum ist größer als er von draußen ausgesehen hat: Mehr als zehn Zweiertische und eine lange, hölzerne Bartheke sind hier untergebracht, ohne dass die Stube vollgestopft wirkt, und ich erspähe sogar noch eine Tür, die vielleicht in den Lagerraum oder die Küche führt.
An einem Tisch direkt am Fenster sitzt ein junges Pärchen, das sich angeregt über etwas unterhält und dabei immer wieder Blicke auf das zu ihnen gehörende friedlich schlummernde Baby wirft, das neben dem Tisch in seinem Kinderwagen liegt.
Hinter der Theke steht ein junger Kellner mit strähnigem, blondem Haar, der gerade dabei ist, Biergläser zu spülen und dabei ziemlich grimmig aus der Wäsche guckt.
Ansonsten ist das Café vollkommen leer – wo ist der Mann, der es gerade eben direkt vor mir betreten hat?
Ich drehe mich mehrmals um die eigene Achse, kann ihn aber nirgends entdecken. Verdutzt setze ich mich an einen Tisch neben der Tür, da meine Füße bleiern und schwer und mein Magen entsetzlich leer sind.
Irgendwie muss ich den Mann verloren haben, aber wie? Vielleicht muss ich morgen früh an der Haltestelle noch einmal von vorn anfangen…
Während ich nachgrüble und auf den Kellner warte, macht mich die warme, verbrauchte Luft ganz schläfrig und das Geplapper des jungen Pärchens wird zu einer sanften, schön klingenden Schlafmelodie…
„Was kann ich Ihnen brin-“ Der Kellner, der neben meinem Tisch aufgetaucht ist, ohne dass ich es bemerkt habe, bricht seinen Satz jäh ab, als ich zu ihm hoch schaue und er mein Gesicht erkennen kann.
Auch ich kann meine Verblüffung nicht verbergen und starre aus großen Augen hoch zu dem Mann, so als wäre es unheimlich spannend, ihn zu beobachten.
Nach zwei Sekunden ist die Überraschung gebannt, ich bestelle einen Kaffee und ein Stück Marmorkuchen und schaue dem Kellner beim Weggehen und Kaffeekochen zu.
Der Mann aus dem Bus ist also keineswegs hierher gekommen, um sich ein Mittagessen zu gönnen – er kellnert hier!
Mit schnellen Handbewegungen stapelt er eine Kaffeesahne, einen Keks und ein Zuckertütchen auf der Untertasse, zieht flink ein Stück Kuchen aus der Auslage und trocknet die Gläser ab, die sein Kollege gerade gespült hat, während die Kaffeemaschine gluckst und blubbert.
„Reiner, ich mach dann mal Schluss, ja“, sagt der grimmig aussehende, junge Kellner gedehnt und trocknet sich die Hände an einem löchrigen Handtuch. „Du kommst klar?“
„Ja“, antwortet der Mann aus dem Bus, der Reiner heißt, und gießt heißen, dampfenden Kaffee für mich in eine Tasse.
Reiner stellt mir den bestellten Kuchen und den Kaffee sehr schnell auf den Tisch, nachdem sein Kollege gegangen ist, um sich gleich wieder hinter der Theke zu verkriechen und so zu tun, als hätte er dort unglaublich viel zu tun. Dabei sind alle Gläser bereits längst trocken und stehen ordentlich in ihren Schränken, und es gibt rein gar nichts anderes zu tun. Deshalb wischt Reiner völlig überflüssiger Weise die Theke mit dem löchrigen Handtuch blank und schaut dabei kein einziges Mal zu mir auf.
Ich würde gern wissen, was er gerade denkt, was er über mich denkt – bestimmt sagt er sich: Was ist das für eine komische, gaffende Person? Warum verfolgt sie mich heute den ganzen Tag lang?
Dasselbe frage ich mich ja eigentlich auch – warum tue ich das?
Hätte ich nicht eigentlich Sinnvolleres mit meiner Zeit anzufangen, als fremden Menschen zu folgen?
Genau dieses Wort ist der Schlüssel: fremd.
Ich mag dieses Wort nicht.
Es klingt kühl und distanziert und passt nicht zu den drei Leuten von meiner Haltestelle, die ich jeden Morgen dort treffe. Es passt nicht zu ihnen und ich bringe es dennoch mit ihnen in Verbindung, da ich nichts über sie weiß – vielleicht will ich dieses miese, fiese kleine Wörtchen loswerden; will es von Vivian, Reiner und der dicken Frau abschütteln, damit sie mir nicht länger fremd sind… was ist das Gegenteil von fremd, oder, noch besser: Wann ist man einem Menschen fremd und wann nicht mehr?

Ein angenehm kühler Hauch frischer Luft stößt mir entgegen, als zwei Männer das Café West End betreten. Ohne sich umzuschauen marschieren sie zielstrebig zur Bar, nehmen auf storchbeinigen Hockern Platz und warten darauf, dass Reiner ihre Bestellung entgegennimmt. Dieser poliert nicht länger die Theke; er hat das Handtuch beiseite gelegt und steht mit dem Rücken zu den beiden neuen Gästen, die sich einen kurzen Blick aus schmalen Augen zuwerfen. Dann sagt einer der beiden, der eine sehr rauchige, kratzbürstige Stimme hat: „Hallo Reiner.“
Selbst jetzt, da Reiner direkt von einem Gast angesprochen wurde, dreht er sich nicht sofort sondern nur sehr, sehr zögerlich um. Ich runzle die Stirn, als ich erkenne, dass in seinen Augen der Schrecken glänzt.
Vorsichtig, so als würde er sich einem scheuen Reh nähern, tritt er näher an die beiden jungen Männer heran und unterhält sich schnell und gedämpft mit ihnen, sodass es mir unmöglich ist, ein Wort des Gespräches zu verstehen.
Es geht mich auch nichts an, belehre ich mich selbst und wende mich meinem Marmorkuchen zu, den ich bisher noch nicht angerührt habe. Er schmeckt trocken und stickig; ein wenig wie die Luft hier drin, aber ich bin so hungrig, dass ich das Stück in drei großen Bissen verschlungen habe.
Die beiden Männer reden noch immer mit Reiner, und es scheint, als würden sie sich über irgendetwas streiten…
Das junge Paar mit dem Baby bricht auf; ihre Unterhaltung verstummt und sie ziehen sich unter Rascheln und Kichern ihre Jacken an. „Wiedersehen“, sagt die junge, hübsche Frau mit den langen, blonden Haaren freundlich zu mir, als sie den Kinderwagen an mir vorbeischiebt und durch die Tür, die ihr Mann ihr aufhält, nach draußen tritt.
Nun bin ich ganz allein mit Reiner und den zwei Männern, die in ihren schwarzen Jacken auf den Barhockern sitzen und sich immer wieder Blicke aus kleinen, bösen Augen zuwerfen…
Ich versuche, nicht hinzusehen, aber irgendein Gefühl sagt mir, dass ich das hier mit ansehen sollte… Ich schaue noch einmal kurz aus dem Fenster nach draußen auf die Straße und sehe das junge glückliche Pärchen davonlaufen. Es ist schön, dass es Menschen gibt, die so friedlich leben können, denke ich beinahe ein wenig neidisch und wende mich wieder der Szene an der Bar zu, als das Gespräch der drei Männer plötzlich lauter wird.
„Ich kann nicht, versteht ihr, ich kann nicht!“, zischt Reiner und als er sieht, dass ich ihn gehört habe, senkt er den Kopf und redet wieder so leise, dass ich nichts verstehe.
Einer der Gäste, nicht der mit der rauchigen, kratzbürstigen Stimme, der Reiner vorhin begrüßt hat, sondern sein Kollege, sagt in einer normalen Lautstärke: „Dann tut es uns wirklich leid…“
Eine kurze, sehr stille Pause entsteht, in der die Spannung zwischen den drei Männern zu zerreißen droht. Dann tritt Reiner einen Schritt nach links und macht irgendetwas, das ich nicht genau sehen kann, da seine Hände hinter der Holztheke verborgen sind. Als er fertig ist, kehrt er zu den beiden Gästen zurück, die, wie es mir gerade leise dämmert, gar keine richtigen Gäste sind, und gibt dem einen etwas in die Hand, das dieser blitzschnell in seine Jackentasche gleiten lässt. Die beiden jungen Herren verabschieden sich freundlich und scheinbar zufrieden von dem Kellner, dem inzwischen viele kleine Schweißperlen auf der Stirn glänzen.
„Bis bald, Reiner“, sagt der mit der rauchigen Stimme und wendet sich zum Gehen.
„Wiedersehen“, sagt er auch zu mir, nickt mir höflich zu und verlässt mit seinem Kumpel das Café.
Ich nippe an meinem Kaffe und betrachte Reiner aus dem Augenwinkel heraus. Er lehnt mit den Ellbogen auf der Bartheke und wirkt sehr erschöpft. Nicht so erschöpft wie vorhin, als er aus der Villa gekommen ist, sondern anders erschöpft.
Seelisch erschöpft.
Es vergehen Minuten, in denen die Welt im Café West End stillzustehen scheint. Irgendwann registriert Reiner, dass ich noch da bin, wenn er auch mit seinen Gedanken noch völlig woanders ist, und er kommt zu meinem Tisch.
„Wollen Sie noch irgendwas oder-“, beginnt er und beendet den Satz nicht, er schafft es nicht, aber es ist auch nicht nötig.
„Nein“, sage ich, „ich hab das da eben nicht gesehen.“
Reiner mustert mich, aber sein Blick ist weder misstrauisch noch böse oder wütend, sondern einfach nur leer und glasig. „Was nicht gesehen?“
Ich zögere, bevor ich sage: „Dass Sie den beiden Männer Geld aus der Kasse gegeben haben.“ Es ist nur eine Vermutung, es ist ein Verdacht, aber ich scheine damit ins Schwarze getroffen zu haben. Reiner reagiert zunächst überhaupt nicht, dann lässt er sich erschöpft auf den Stuhl mir gegenüber sinken und rückt den Aschenbecher zurecht, nur, um irgendetwas zu tun zu haben.
„Diese Schweine… ich kann es nicht anders zurückzahlen, verstehen Sie, ich kann nicht.“ Mir kommt es so vor, als hätte er im Moment völlig vergessen, mit wem er spricht; als hätte er vergessen, dass er sein Herz der Person ausschüttet, der er vor wenigen Stunden noch äußerst misstrauisch gegenübergetreten ist und der er jetzt, obwohl er sie kein bisschen besser kennt, seine Straftat gesteht.
Ich komme mir ein wenig so vor wie ein Priester bei der Beichte, nur dass ich am Schluss dieser Beichte nicht sagen werde: „Dir sei vergeben“, da es nicht hilft. Es reicht nicht, dass Gott einem vergibt; es genügt nicht, einfach zu vergeben und mit der Welt und vor Gott wieder im Reinen zu sein…
„Aber Sie haben zwei Jobs-“, beginne ich vorsichtig, doch Reiner lacht nur sarkastisch.
„Zwei Jobs? Ich habe drei.“ Er schaut kurz zu mir hoch. „Zwei davon kennen Sie ja jetzt. Samstags und sonntags trage ich Zeitungen aus.“ Plötzlich liegt wieder etwas Misstrauisches in seinem Blick. „Dann können Sie mich ja gleich mitnehmen.“
Ich bin überrascht. „Ich verstehe nicht-“
„Na ja, Sie sind doch von der Polizei, oder Detektiv oder so was, nicht?“ Er lässt den Aschenbecher in Frieden und legt seine Hände glatt auf den Tisch, so als wolle er mich geradezu dazu auffordern, ihm Handschellen anzulegen.
„Nein“, sage ich sofort, „ich bin kein Detektiv.“ Die Vorstellung bringt mich zum Grinsen. „Auch wenn ich als Kind immer gerne einer werden wollte.“
„Warum spionieren Sie mir dann hinterher?“ Er rührt seine Hände nicht vom Fleck.
Ich glaube mich zu erinnern, ihm das heute Morgen bereits erklärt zu haben, aber da er sich schließlich nicht alles merken kann, sage ich erneut: „Ich möchte die Menschen besser kennen lernen, die ich jeden Tag treffe und doch nicht kenne. Es ist nicht schön, für alle nur ein Fremder zu sein, und andere nur als Fremde anzusehen…“ Ich merke schon beim Sprechen, dass er mich nicht versteht, aber das ist nicht schlimm. Vielleicht wird er es irgendwann verstehen, wenn wir uns nicht mehr fremd sind.
„Also ähm – werden Sie mich anzeigen?“, fragt er kleinlaut.
„Nein.“ Ich schiebe Kuchenteller und Tasse von mir weg, krame kurz in meiner Jackentasche und lege etwas Kleingeld auf den Tisch. „Menschen tun manchmal solche Dinge, weil sie sie tun müssen.“ Ich stehe auf und bereite mich zum Gehen.
Reiner erhebt sich ebenfalls. „Danke“, sagt er sehr leise.
Ich lächle matt und verlasse ohne ein weiteres Wort das Café, um festzustellen, dass es draußen aus Eimern gießt.
Ich könnte natürlich noch so lang bleiben, bis Reiner Feierabend hat und nachschauen, wohin er dann geht; ob er allein lebt oder eine Familie hat, ob er glücklich ist oder vor Einsamkeit trauert – doch ich habe irgendwie das Gefühl, für heute genug gesehen zu haben; für heute gesättigt mit neuen Informationen zu sein, und gehe zur nächsten Bushaltestelle, um nach Hause zu fahren.

~3~

Tag 3: Mittwoch

Der Regen fällt am nächsten Morgen noch immer in langen Bändern auf die Erde und bildet Pfützen auf der Straße, auf dem Gehweg und in den Abflussrinnen, da diese die Wassermassen nicht so schnell schlucken können wie sie fallen.
Ich kann kaum die Hand vor Augen erkennen, als ich meine Haltestelle erreiche und mich unter dem kleinen Plastikvordach in Sicherheit vor dem Unwetter bringe.
Reiner zuckt zusammen, als er mich erkennt, vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein. Er traut sich nicht recht, mir in die Augen zu schauen, aber ich weiß, dass er mir gerne noch einmal sagen würde, wie dankbar er mir ist. Bevor er zu irgendetwas kommen kann, vernehme ich von irgendwoher Vivians zartes Stimmchen und brauche eine Weile, um ihre kleine Gestalt durch den Schleier des Regens hindurch auszumachen.
„Hallo.“ Das Mädchen gesellt sich zu mir und Reiner unter das Vordach und zieht sich die Kapuze vom Kopf.
„Hallo zurück“, sage ich. Wir grinsen uns an und beobachten die Pfützen zu unseren Füßen, die von den harten Regenbändern aufgewühlt werden und einfach nicht zur Ruhe kommen können, um die Lichter so wiederzuspiegeln, wie sie wirklich sind. Stattdessen sind dort verzerrte Gestalten und Formen, die keinerlei Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit haben.
„Ich wollte dich was fragen“, durchbricht Vivian nach einer Weile die Stille; oder eher das laute Prasseln des Regens, „ich hab morgen Geburtstag. Und ich wollte dich einladen.“
Mich überrascht dieser Satz so sehr, dass ich erst einmal sprachlos bin und nur überrascht zu Vivian hinabblicken kann.
Reiner steht noch immer rechts neben mir und tut so, als würde er unserem Gespräch nicht lauschen.
„Also – mich einladen?“, hake ich schließlich nach.
„Ja… ich weiß nicht, wen ich sonst einladen soll… meine Mama will, dass Gäste kommen.“ Das Mädchen schaut beschämt zu Boden.
„Okay, dann werde ich kommen.“
Wir vereinbaren eine Uhrzeit, Vivian gibt mir ihre Adresse und direkt darauf kommt wie jeden Tag unser gemeinsamer Bus.
*
Die dicke Frau mit den leeren Einkaufstaschen erreicht die Haltestelle am heutigen Morgen im letzten Augenblick. Der Bus ist bereits kurz davor, die Türen zu schließen und anzufahren, als die vor Nässe triefende Frau herein springt und vom Busfahrer wortlos angewidert beäugt wird. Die versaut mir den ganzen Bus, lese ich von seinen Augen und seiner Miene.
Ich warte, bis die schnaufende Frau einen Platz eingenommen hat, um mich neben sie zu setzen und ihr ein Taschentuch zu reichen, damit sie sich wenigstens das Gesicht trockenen kann.
„Danke“, sagt sie abwesend, nimmt das Tuch entgegen und hat es schon allein mit ihren Händen völlig durchnässt. Ich reiche ihr weitere fünf Taschentücher, bis ihr Gesicht halbwegs trocken ist, und ernte anschließend ein herzliches Lächeln. „Das ist sehr freundlich.“
Ich höre, dass die Frau einen südländischen Akzent spricht, vielleicht Spanisch oder Italienisch. spricht.
„Kein Problem“, antworte ich.
Die Frau steigt an der Haltestelle nach Vivian aus. Ich verlasse kurz hinter ihr den Bus und werfe beim Aussteigen einen flüchtigen Blick auf Reiner, der mich genau beobachtet. Vielleicht ist er froh, dass ich ihm heute nicht nachspioniere – vielleicht hätte er mich aber auch gern dabei, aus welchen Gründen auch immer…

Wie ich es mir gedacht habe hat die dicke Frau ihre Einkaufstaschen dabei, um sie im Supermarkt aufzufüllen. Routiniert schlendert sie durch die Gänge des Ladens, nimmt Brot, Obst, Wurst und Käse gezielt aus den Regalen und hat bald den ganzen Einkaufswagen vollgeladen. Das gefällt mir, denke ich, während ich ebenfalls durch die Abteilungen laufe, der Alltag dieser Frau ist nett; sie geht ruhig und friedlich einkaufen, hat keine Probleme mit älteren Vollidioten, die ihr Bücher kaputtmachen oder mit schmierigen, ungemütlichen Männern, bei denen sie Schulden hat und für die sie Geld aus der Kasse klauen muss.
Ein ganz normaler, friedlicher Alltag…
Nachdem die Frau bezahlt hat, verstaut sie ihren Einkauf in die Taschen, die ihr nun, da sie voll sind, schwer zu schaffen machen. Da sie es aber anscheinend gewohnt ist, schwer zu tragen, hängt sie sich die Beutel federleicht über die Schultern und verlässt den Supermarkt.
„Kann ich Ihnen vielleicht beim Tragen helfen?“, frage ich, als ich neben sie trete.
Die Frau schaut ein wenig irritiert zu mir auf und als sie mich aus dem Bus wieder erkennt, umspielt ein Lächeln ihre Lippen. „Das ist sehr nett.“
Ich nehme zwei der schweren Taschen, hänge sie über meine eigenen Schultern und gehe gemeinsam mit der Frau über den halbvollen Parkplatz des Marktes.
„Sie können mir auch zurückgeben, ich muss zu Bushaltestelle, Sie müssen vielleicht hier arbeiten-“, sagt sie nach einer Weile in einer schuldbewussten Stimme.
„Nein, nein, ich muss auch zur Bushaltestelle“, winke ich ab und tue so, als würden mir die schweren Tüten kein bisschen zu schaffen machen. In Wirklichkeit breche ich unter dem Gewicht fast zusammen; das hätte ich wissen müssen, der Arzt hat mich extra davor gewarnt, schwer zu heben…
An der Haltestelle angekommen, die sich gegenüber der befindet, an der wir vor einer Weile ausgestiegen sind, stelle ich die Taschen auf dem Boden ab und freue mich über diese Erleichterung.
„Das ist sehr nett von Ihnen“, sagt die Frau noch einmal und mustert mich dankbar.
Sie ist so ein Mensch, der sich ständig wegen allem bei anderen bedanken muss.
Daher überschlägt sie sich beinahe vor Dankbarkeit, als ich ihr anbiete, die Taschen von unserer Haltestelle aus noch bis zu ihr nach Hause zu tragen. Nun, da sie anscheinend Vertrauen zu mir gefasst hat, redet sie wie ein Wasserfall. „Ich muss immer viel kaufen für viele Personen, wir leben sieben zuhause, es ist immer viel.“
„Sieben Leute?“, frage ich nach, „das ist wirklich viel.“ In Wirklichkeit wollte ich sagen: „Das ist ja toll, es muss großartig sein“, denn ich selbst habe niemals eine große Familie besessen; ich weiß nicht, wie es ist, mit mehr als drei Leuten beim familiären Abendessen zu sitzen… Doch da ich den Eindruck habe, dass die Frau mit ihren vielen Kindern sehr gestresst ist und ich sie mit dieser Aussage vielleicht überrumpeln könnte, schweige ich und höre zu, was sie noch zu sagen hat.
„Früher wir waren acht, aber meine größte Tochter wohnt nicht mehr zuhause, Lucia wohnt bei Freund, Lucia ist neunzehn und hat schon eigene Tochter, ich muss oft aufpassen auf Baby, das ist sehr viel…“
Als wir nach einem zehnminütigen Marsch von unserer allmorgendlichen Haltestelle aus vor einem großen Mehrfamilienhaus Halt machen, stelle ich die schweren Taschen erleichtert am Boden ab, während Margherita aufschließt. Ich kann mir ihren Nachnamen nicht merken, obwohl sie ihn mir auf dem Weg hierher mindestens drei Mal unter Lachen gesagt hat, deshalb hat sie mir angeboten, sie einfach nur Margherita zu nennen.
Die Wohnung befindet sich im dritten Stock eines schäbigen, dunklen Hausflures, in dem sämtliche Laute aus allen hier befindlichen Wohnungen zu vernehmen sind und in dem somit eine ordentliche Geräuschkulisse herrscht. Es gibt keinen Aufzug und ich bin vollkommen außer Atem, als wir endlich oben angekommen sind und ich den Einkauf in der Küche ablade.
„Vielen Dank. Es ist sehr nett, ich-“ Bevor Margherita dazu kommt, ein weiteres Wort zu mir zu sagen, dringt eine laute, aufgeregte Frauenstimme zu uns durch, die, obwohl ich es zunächst vermute, nicht aus dem Hausflur oder einer angrenzenden Wohnung, sondern aus einem anderen Zimmer dieser Wohnung stammt. Ich verstehe kein einziges Wort, was daran liegt, dass die Frau, wer immer sie ist, italienisch redet.
„Lucia? Lucia?“, ruft Margherita und stürmt aus der Küche in einen Raum hinein, den ich von hier aus nicht sehen kann. Eine Weile lang höre ich gar nichts, dann ertönt wieder die unbekannte Frauenstimme und ein Telefonhörer wird auf die Station geknallt. Es folgt ein Wortgefecht zwischen Margherita und der Unbekannten auf Italienisch, dessen Inhalt ich zwar nicht verstehen, dessen Klang ich allerdings entnehmen kann, dass die beiden Frauen sich streiten.
Kurz darauf erscheint Margherita wieder in der Küche und hinter ihr eine große, junge Frau mit einem etwa einjährigen Kind auf dem Arm. Die hübsche Türkin hat langes, lockiges Haar, das ihr wie ein Samtvorhang auf die schmalen Schultern fällt. Als ihre dunklen, fast schwarzen Augen mich erfassen, runzelt sie leicht die Stirn und stellt ihrer Mutter eine Frage in ihrer Sprache. Ich fühle mich inzwischen sehr unwohl und es gefällt mir nicht, dass die beiden sich auf Türkisch über mich unterhalten, sodass ich sie nicht verstehen kann. Zu meiner Überraschung antwortet Margherita jedoch auf Deutsch: „Ich habe in Supermarkt getroffen, hat mir geholfen mit Einkauf. Du hättest mir gesagt, dass du da bist, du hättest helfen können.“ Sie beginnt, die eingekauften Lebensmittel in die Schränke zu füllen und macht dabei einen sauren, strengen Gesichtsausdruck, so als wäre alles die Schuld der Schachtel Cornflakes, die sie gerade in eine Lade wirft.
„Aber Mama, ich habe dir gesagt, dass ich jetzt weg muss. Bitte pass auf Paola auf.“ Lucia spricht ein fast akzentfreies, klares Deutsch, was wohl daran liegt, dass sie hier geboren wurde und hier aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. Die hübsche Frau wippt ihre kleine, pummelige Tochter auf dem Arm, die mich aus ihren großen, runden Knopfaugen anschaut und wohl die einzige ist, die es im Moment nicht kümmert, was um sie herum geschieht.
Kleiner süßer Fratz, denke ich bei mir und schaue zurück, du musst die Welt erst kennen lernen, musst lernen, was geht und was nicht, lernen, wann man sich zu wundern, zu ärgern oder zu freuen hat…
„Ich kann nicht aufpassen, ich muss dein Schwester von Schule holen, muss sie zu Arzt bringen“, sagt Margherita steinhart und ihre Stimme verrät eindeutig, dass sie sich nicht erweichen ließe, selbst wenn man noch Jahre auf sie einreden würde.
„Aber du kannst Paola doch mitnehmen!“, ruft Lucia. Ihre derzeitige Tonlage passt nicht zu dem hübschen, zarten Gesicht, durch das sich gerade tiefe Wutfalten ziehen, die sie auf einmal hässlich wirken lassen.
Margherita sagt nichts darauf, und ich vermute auch, warum: Sie könnte das kleine Kind natürlich mitnehmen, aber nach dem, was sie mir auf dem Weg hierher über Lucia erzählt hat, kann ich gut nachvollziehen, warum sie es nicht tut: Die Kleine ist anscheinend öfter bei ihrer Oma als bei ihrer Mutter, da Lucia mit ihren neunzehn Jahren noch leben und nicht durch ein Baby an Zuhause gefesselt sein möchte.
„Warum kann nicht Guiseppe nehmen, wo ist er?“, fragt Margherita und schlägt den Kühlschrank fester zu als es nötig gewesen wäre.
„Er kriegt Paola nicht“, schreit Lucia außer sich, „er kriegt sie nie wieder, dieser Bastard, er hat eine Neue, was meinst du, mit wem ich mich gerade am Telefon gestritten habe!“
Bei diesen Worten dreht sich Margherita um und schaut ihre Tochter fassungslos an.
Beide scheinen vergessen zu haben, dass ich noch immer bei ihnen in der Küche stehe und unfreiwillig zuhöre.
„Ja, da guckst du, was! Ich habe ihn gleich rausgeschmissen. Er kriegt die Kleine nie!“ Lucia streicht ihrem Baby über die Wange und küsst es auf sein Köpfchen.
„Gut. Dann gib. Du musst mit Guiseppe sprechen, du musst vertragen.“ Margherita nimmt ihrer Tochter die Enkelin ab und schaut sich das kleine Mädchen liebevoll an.
„Vertragen!“ Lucia macht eine abwertende Handbewegung. „Der Arsch kann mich mal!“ Mit diesen Worten macht sie auf dem Absatz kehrt und verlässt die Wohnung.
Mit einem Mal ist Stille eingekehrt.
„Es tut mir sehr leid“, beginnt Margherita und schüttelt den Kopf. „Es ist nicht sehr leicht, meine eigene kleinste Kinder sind 9, und das hier ist Enkel, es ist manchmal schwierig zu verstehen…“
„Ist schon gut“, sage ich ein wenig unsicher, „ich gehe dann auch mal besser.“ Irgendwie fühle ich mich schlecht dabei, Margherita mit all ihrer Arbeit allein zu lassen, aber ich will ihr nicht das Gefühl geben, mich in ihr Leben einzumischen.
„Haben Sie Kinder?“, fragt sie, so als hätte sie mich gerade überhaupt nicht gehört und stupst ihrem Enkelchen auf die Nase.
„Äh – nein“, erwidre ich und beginne, mich immer unwohler zu fühlen.
„Es ist nicht einfach, aber es ist ein Segen.“ Margherita lacht und auch die kleine Paola beginnt zu glucksen.
„Gut, ich gehe dann mal“, sage ich und diesmal versteht Margherita mich.
„Vielen Dank“, strahlt sie mich an, „Sie sind netter Mensch.“
Ich lächle und trete hinaus in den lauten Hausflur.
Die Familie gefällt mir, denke ich, als ich die vielen Stufen hinabsteige, ich kenne zwar bisher nur die Mutter, die älteste Tochter und das Enkelchen, aber ich mag sie.
Das muss ganz schön verrückt klingen, denke ich dann, immerhin geht es dort nicht gerade ruhig und friedlich zu… und doch mag ich sie.
*
Nach einer kleinen Auszeit, die ich mir am Mittag gönnen muss, da mich all meine Kräfte gegen elf Uhr verlassen zu haben scheinen, breche ich am frühen Nachmittag zu Vivian auf. Ich gehe zu Fuß, da ich die Straße kenne, in der sie wohnt: Es ist eine nette kleine Seitenstraße voll hübscher Doppelhaushälften mit niedlichen Vorgärten, die im Frühjahr bunt und fröhlich aussehen.
Auch Vivians Zuhause ist eine dieser Doppelhaushälften am jähen Ende der Straße: Umsäumt von einem niedrigen Holzzäunchen, das optimal zur Verkleidung der Haustür und zu dem Gartenschuppen, von dem ich eine Ecke hinten im Garten blitzen sehen kann, passt, ist dieses Häuschen sogar das schönste von allen. Am Eingang hängen bunte Ballons und ein Schildchen mit „Happy Birthday, Vivi“ prangt in Augenhöhe auf der Türe.
Wirklich schön, denke ich bei mir. Ein schöner, fröhlicher, bunter Kindergeburtstag.
Das, was ich denke, und das, was ich als nächstes sehe, steht in einem großen Kontrast zueinander: Mir öffnet eine kleine, dünne und blasser denn je aussehende Vivian mit riesigen, blauen Augen, die einen traurigen Glanz haben.
„Hallo Vivi“, sage ich irritiert, da ich nicht darauf vorbereitet war, ein derartig trauriges Häufchen Elend an dem eigentlich schönsten Tag des Jahres zu sehen.
„Hallo zurück.“ Das Mädchen schaut zu mir auf, versucht, zu lächeln, und kommt dann überraschender Weise zu mir heraus, statt mich hinein zu bitten.
„Alles Gute zum Geburtstag!“ Obwohl ich genau weiß, dass es sie nicht aufheitert, überreiche ich Vivian ein kleines, rechteckiges Geschenk in buntem Packpapier. Sie bedankt sich höflich und öffnet das Päckchen, während wir den Gehweg hinunterschlendern und uns gemächlich von ihrem Zuhause entfernen.
„Oh, toll!“, ruft Vivian aus, als sie ein neues, glattes, in einen gelben Einband gepacktes Buch des „kleinen Prinzen“ in den Händen hält. „Danke!“ Einen kurzen Augenblick lang strahlt sie mich an, dann wird ihre Miene wieder traurig und ernst.
„Was ist los mit dir?“, frage ich und mustere das Kind besorgt. Wir machen Halt, bevor die Straße in einen kleinen, unbefestigten Kiesweg in den Wald mündet, und setzen uns auf eine Holzbank, die an just dieser Stelle platziert wurde.
„Ach“, seufzt Vivi und richtet ihren Blick in den Himmel, der noch immer grau und unruhig ist; so aufgewühlt wie die Seele dieses kleinen Mädchens, das heute zwölf Jahre alt wird…
„Es ist nur, keiner ist gekommen, den ich eingeladen habe…“
„Aber ich bin da!“, sage ich lächelnd und tue so, als wäre ich ein wenig eingeschnappt.
„Jaa, natürlich“, gesteht Vivian sich ein und muss auch lächeln, „aber… die mögen mich alle nicht… und ich habe auch nicht das bekommen, was ich mir gewünscht habe… das tue ich nie…“
Ich warte, dass Vivian von allein weiterredet, und als sie es nicht tut, frage ich behutsam: „Was hast du denn bekommen?“
„Ein Puzzle… ein Lernspiel für den Computer… ein paar neue Anziehsachen…“
„Aber das ist doch schön“, sage ich.
„Schon.“ Vivian betrachtet die neue Ausgabe ihres Lieblingsbuches von allen Seiten, „aber ich habe mir was anderes gewünscht.“
„Und was?“ Ich weiß, dass ich nicht berechtigt bin, diese Frage zu stellen, aber Vivi antwortet mir prompt: „Ich hab mir gewünscht, länger als 24 Stunden Geburtstag zu haben.“ Sie schaut mich an. Ihr Blick zeigt, dass sie nicht gescherzt hat, dazu wäre sie im Moment gar nicht in der Lage. „Aber das geht ja nicht.“ Sie seufzt noch einmal und schaut hinein in den dunklen Wald, in dem die Nadelbäume dicht beieinander stehen.
„Doch, das geht“, rufe ich, „natürlich geht es!“
Vivian wendet ihren Kopf wieder mir zu, aber diesmal ist ihr Blick misstrauisch. „Du willst mich veralbern.“
„Nein!“ Ich lache. „Pass auf. Es gibt eine Möglichkeit, einen Tag mit mehr als 24 Stunden zu erleben. Nur eine Möglichkeit. Man muss der Zeit davonlaufen.“ Ich senke meine Stimme geheimnisvoll und kann nahezu mit ansehen, wie die Spannung in Vivians Augen zu leuchten beginnt.
„Wie?“, haucht sie mit angehaltenem Atem.
„Na ja. Man müsste vor Mitternacht hier bei uns los fliegen, und immer in Richtung Westen reisen. Je näher du an Amerika herankommst, desto früher wird es! Und wenn du noch weiter fliegst, über die ganzen Vereinigten Staaten hinüber, und ganz, ganz im Westen des Landes, vielleicht in Los Angeles, landest, dann wäre immer noch derselbe Tag, obwohl er hier in Deutschland eigentlich schon längst vorbei ist!“ Nach dieser Geschichte ist Vivian geplättet. Sie starrt mich mit offenem Mund an und hat ganz vergessen, wieder auszuatmen.
„Der Zeit davonlaufen“, echot sie tonlos, „nach Amerika…“
Ich nicke stumm und stelle mir vor, in einem Flugzeug zu sitzen, einen Blick nach hinten zu werfen und die Zeit zu sehen, die ihre langen, dünnen Finger nach mir ausstreckt und mich greifen will… doch ich gebe einfach ein wenig mehr Gas und sehe die Hand hinter mir immer kleiner werden, bis sie mich schließlich nicht mehr erreichen kann… es muss herrlich sein, die Zeit auszutricksen…
„Können wir das zusammen machen?“, reißt Vivian mich aufgeregt aus den Gedanken. Sie ist von der Bank aufgesprungen und steht mir gegenüber; bereit, jeden Moment loszulaufen, um ihr Wettrennen mit der Zeit anzutreten.
„Klar“, antworte ich. Vivian blickt mich einen Moment lang ungläubig an. Ich lächle verständnisvoll – warum sollte sie mir auch glauben? Wahrscheinlich ist sie von Erwachsenen Antworten wie „nein, das geht nicht“ oder „wenn du größer bist“ gewohnt. Dass ihr jemand ohne jeglichen Widerstand einwilligt, kennt sie gar nicht…
„Wir fliegen nach Amerika?“, fragt sie, so als wolle sie noch mal auf Nummer Sicher gehen.
„Ja, machen wir!“ Es ist herrlich zu sehen, wie die Traurigkeit aus dem Gesicht der Kleinen fällt und einem strahlenden, breiten Lachen weicht, das laut an den Wänden der Häuser widerhallt.
„Vivian! Vivian!“ Die strenge Stimme einer Frau übertönt selbst das laute Gelächter, das noch eine Weile lang in meinen Ohren nachklingt. Dann drehe ich mich um und sehe eine dünne, aufrecht gehende Dame in rotem Kostüm, die ein eckiges, knochiges Gesicht und kalte, blaue Augen hat, auf uns zukommen. „Vivian was machst du denn hier draußen? Und wo bleiben deine Gäste?“
Vivis Gesichtsausdruck ist eingefroren. Das Lächeln schwindet nur zäh und ihre Freude lässt sich nur schwer wie ein besonders großer Brocken im Hals hinunterschlucken.
Als die Frau, die anscheinend Vivians Mutter ist, mich entdeckt, wird ihr Blick noch härter und strenger. „Und wer sind Sie?“
„Das ist mein Gast“, sagt Vivian, bevor ich überhaupt den Mund öffnen kann.
Die Frau verdreht kaum merklich die Augen und nimmt ihre Tochter bei den Schultern. „Du solltest dir doch Kinder deines Alters einladen, Schätzchen.“
Vivian macht einen Schmollmund.
„Ich bin auch gerade am Gehen. Ich habe nur das Geschenk vorbeigebracht.“ Ich zwinkere Vivian zu, als diese mich hilflos und sehnsüchtig anschaut, und nicke dann der Mutter zum Abschied zu. „Wiedersehen. Tschüss Vivian.“
Mit diesen Worten gehe ich, um Vivians Blick noch sehr lange hart im Rücken zu spüren.
Ich kann ihr in dieser Situation nicht helfen… ich würde ihr nicht helfen, indem ich bliebe…

~4~

Tag 4: Donnerstag

Der nächste Morgen ist trüb und neblig, als ich auf die Straße trete.
Zerfetzte Schlieren dicken, weißen Nebels liegen über der Landschaft und bilden einen stufigen Aufstieg zu den Wolken am Himmel, die sich im schwarzen Dunkel des frühen Morgens verstecken.
Auch meine Haltestelle ist hinter den dichten Nebelschwaden verborgen und ich sehe sie erst, als ich unmittelbar davor stehe.
Ich muss heute früh dran sein, da bisher nur Reiner unter dem kleinen Plastikvordach steht.
Um uns herum ist alles merkwürdig still und selbst wenn mal ein Auto an uns vorüberzieht, so ist das Geräusch seines Motors gedämpft und scheint durch eine dicke Schicht Watte hindurch an unsere Ohren zu dringen.
„Hallo“, sage ich freundlich. Reiner blinzelt mich einen Augenblick lang schüchtern an, dann sagt er in die Stille hinein: „Ich muss mich bei Ihnen bedanken.“
„Warum denn?“ Ich schaue Reiner eisern dabei zu, wie er sich mit einem sichtlich unwohlen Gefühl im Bauch um eine Antwort auf diese Frage herumzuwinden versucht.
„Dass Sie… dass Sie neulich im Café… es nicht gesehen haben“, presst er schließlich mühsam hervor.
„Richtig, ich habe nichts gesehen“, antworte ich sofort, „deshalb brauchen Sie sich nicht zu bedanken.“
Reiner sieht zunächst so aus, als wolle er lachen, doch schließlich entscheidet er sich für einen weiteren Satz: „Also – ich würde Sie gern auf einen Kaffee einladen… wenn Sie wollen, kommen Sie heute Nachmittag ins Café West End. Ich arbeite wieder da.“
Als ich einwillige, fällt ein riesiger Brocken von Reiner ab und er lächelt zufrieden.
Ich lächle zurück und betrachte ihn mir noch eine Weile lang; diesen armen Kerl plagen das Gewissen und das Schuldbewusstsein, er will sich irgendwie bei mir revanchieren, will wieder ins „Reine“ kommen…
Gehen gläubige Menschen nicht auch deshalb zur Beichte?
Einige Minuten nach diesem Wortwechsel erscheinen Vivian und Margherita beinahe zeitgleich.
Beide grüßen mich freundlich und beide schauen einander komisch an, als sie merken, dass alle beide mich kennen.
Ich muss lachen, denn es ist herrlich.
Es ist wie ein Fest.
Ein Fest, zu dem ich lauter Leute eingeladen habe, die sich untereinander nicht kennen und die nur durch mich miteinander verbunden sind.
Dieses Gefühl hat etwas Bindendes, etwas Mittiges.
Man fühlt sich wie das Zentrum eines Kreises, den man mit dem Zirkel gezogen hat.
Jeder Punkt des Kreises lässt sich mit dem Zentrum durch eine gleich lange Linie verbinden, selbst wenn sich all diese einzelnen Linien untereinander nicht berühren und keine Ahnung von der Existenz der jeweils anderen haben …
„Wie geht es Paola?“, frage ich an Margherita gewandt.
„Oh, sehr gut“, erwidert diese vergnügt, „sie ist liebes Mädchen. Aber Lucia redet nicht mit Guiseppe, sie will nicht vertragen…“ Für ein paar Sekunden ist sie mit ihren Gedanken woanders und ihr Blick wirkt verloren, dann kehrt das Leben in sie zurück und sie redet fröhlich weiter. „Ich kaufe heute nicht so viel, nur gestern so schwere Taschen, heute nur Kleinigkeiten. Ich muss danach zu meine Tochter in Schule, muss mit Lehrer sprechen.“
„Gehen Ihre Kinder auf die Theodor-Fontane-Schule?“
„Nein, Kinder gehen zu Schule in andere Ort, müssen mit Zug fahren, ist weiter Weg…“ Während Margherita weitererzählt, wende ich mich zu Vivian um, die in einigen Metern Entfernung von mir steht und im kleinen Prinzen liest, den ich ihr geschenkt habe. Doch sie liest nicht annähernd so konzentriert wie manchmal, wenn ihre kleinen Augen blitzschnell über die Seiten huschen. Es sieht viel eher so aus, als wäre das Lesen nur ein Alibi, um Margheritas und meinem Gespräch ein klein wenig eifersüchtig zu lauschen.
„Na Vivi. Hast du gestern noch Ärger von deiner Mama bekommen?“, frage ich, als Margherita nichts mehr zu berichten weiß und die eigentliche Abfahrtszeit unseres Busses bereits seit zwei Minuten verstrichen ist.
„Nein. Sie hat nur gesagt, ich soll mir Freunde in meinem Alter suchen.“ Sie klappt ihr Buch zu und atmet die kühle, neblige Luft tief ein. „Aber wir fliegen nach Amerika, oder?“, fragt sie unsicher, so als würde sie erwarten, dass ich heute einen Rückzieher mache.
„Natürlich tun wir das!“, sage ich entschlossen.
Vivians Miene hellt sich auf. „Wir fliegen der Zeit davon.“
„Ja. Wir fliegen der Zeit davon…“
Ich denke wieder an die große, lange Hand, die ich aus dem Flugzeug heraus sehen kann und die nach mir greift… früher oder später wird sie mich kriegen, das weiß ich… ich kann ihr nicht ewig entkommen…
*
Heute sitze ich allein an einem Platz am Fenster, als der Bus abfährt.
Es ist beinahe wie früher, denke ich einen Moment lang sehnsüchtig, früher habe ich immer so dagesessen, habe aus dem Fenster gesehen und bin in den Alltag aufgebrochen… damals war der Zeitpunkt noch nicht so verdammt nahe; er war zwar da, das war er schon immer, aber ich konnte ihn noch nicht berühren, konnte ihn nicht streicheln wie ein gezähmtes Tier, so wie ich es jetzt kann… Wie griesgrämig habe ich doch so manchen Morgen hier gesessen und wollte etwas anderes tun; wollte die Welt entdecken oder am allerliebsten noch in meinem Bett liegen, um auszuschlafen… jetzt habe ich eingesehen, dass ich die Welt nicht mehr entdecken kann und dass ich mir nun die Zeit zurückwünsche, in der ich es mir noch wünschen konnte. Was man an bestimmten Momenten, an bestimmten Gewohnheiten und an bestimmten Gegebenheiten hat, das merkt man immer erst, wenn man genau weiß, dass es nie wieder so kommen wird… niemals…
*
Ich steige nicht aus, als Vivian den Bus verlässt, und ich gehe auch nicht, als Margherita an ihrer Haltestelle angekommen ist.
Mein Ziel ist heute die Haltestelle an einer Sportwiese, die für Fußballspiele und andere Sportveranstaltungen genutzt wird.
Heute Morgen liegt sie brach und dunkel da; die einzigen Spieler, die über sie ziehen, sind die dichten Nebelschwaden, die sich nicht auflösen wollen und noch immer die Sicht trüben.
Früher bin ich auch immer hier ausgestiegen.
Im Sommer findet manchmal bereits sehr früh Fußballtraining statt; ich habe den Spielern hin und wieder gerne beim Aufwärmen zugesehen, bevor ich zur Arbeit gegangen bin; es waren immer nur zwei Minuten Weg von hier aus.
Heute nehme ich einen anderen Weg; er ist etwas länger und er führt nicht zu meiner Arbeit, sondern zum Arzt.
Die Praxis ist voll von hustenden, kranken Menschen, die sich bei dem kalten Wetter vielleicht eine Erkältung eingefangen oder Bauchschmerzen haben.
Manche sind auch nur zum Blutabnehmen da, um anschließend wieder zu verschwinden und arbeiten zu gehen.
Ich suche mir einen Platz im Wartezimmer und bleibe dort still sitzen, ohne den Lärm um mich herum zu mir durchdringen zu lassen… die Geräusche sind dumpf und bedeutungslos; nur die Stimme der Krankenschwester, die hin und wieder reinkommt, um den nächsten Patienten aufzurufen, nehme ich ein wenig klarer wahr…
„Hallo!“, sagt Doktor Franke und schüttelt überschwänglich meine Hand, als ich aufgerufen wurde und in das Arztzimmer trete.
Der Raum ist groß und rechteckig mit zahllosen Regalen an der Wand, in denen Medizinbücher, Aktenordner, Prospekte und braun getönte Fläschchen mit irgendwelchen Flüssigkeiten stehen. Durch das Fenster kann man normalerweise auf die Sportwiese in der Ferne blicken; doch heute reicht die Sicht keine zwei Meter weit.
„Wie fühlen Sie sich?“, fragt er, setzt sich hinter seinen Schreibtisch und lässt mich auf dem Stuhl gegenüber Platz nehmen.
„Gut. Ich komme nur sehr schnell außer Atem…“
„Eigentlich sollen Sie sich ja auch schonen, um gar nicht erst außer Atem zu geraten“, sagt Doktor Franke lächelnd, aber seine Augen sind ernst.
„Ob ich mich schone oder nicht, es läuft doch aufs Selbe hinaus…“ Ich weiß, dass der Arzt nur das Beste für mich will, aber er versteht einfach nicht, wie es ist, gefangen zu sein… gefangen im eigenen Körper…
„In Ordnung. Ich werde Sie jetzt erstmal untersuchen und dann sehen wir weiter.“
Ich kann schon nicht mehr zählen, wie oft wir diese Prozedur in den letzten Monaten durchgegangen sind… abhören, Temperatur messen, Reflexe prüfen, in Augen und Ohren leuchten, … Nach fünf Minuten ist alles getan und Doktor Franke setzt sich wieder auf seinen Sessel hinter dem Schreibtisch, diesmal jedoch mit einer äußerst besorgten Miene.
„Tja, das sieht leider nicht gut aus… Sie haben Temperatur und Ihr Atem rasselt, das gefällt mir gar nicht. Ich kann es nicht verantworten, Sie wieder allein nach Hause zu lassen.“
„Was soll das heißen?“, frage ich baff, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Irgendjemand scheint sie mir aus Leibeskräften ins Ohr zu schreien…
„Es wäre am besten, Sie heute noch ins Krankenhaus zu überweisen. Dort schonen Sie sich wenigstens so, wie Sie sich schonen müssen. Es ist nur zu Ihrem Besten.“ Der Arzt lächelt und entblößt dabei seine geraden, weißen Zähne. Es sind schreckliche, verräterische Zähne, merke ich plötzlich.
„Heute geht nicht“, sage ich nach einer Weile entschlossen. „Ich habe noch einige Dinge zu erledigen.“
„Da kann ich nur hoffen, dass diese Dinge nicht so anstrengend sind!“, erwidert der Doktor mit hochgezogenen Augenbrauen; er sieht aus wie ein alter, weiser Großpapa, der seinen ungebildeten Enkelkindern erzählt, wie es im Leben läuft.
„Ich kann erst übermorgen ins Krankenhaus, es geht früher nicht“, rede ich weiter, ohne auf den letzten Satz des Arztes einzugehen. Dieser zögert sehr lange, bevor er schließlich einwilligt. „Okay. Am Samstag kommen Sie ins Krankenhaus. Bitte schonen Sie sich bis dahin. Das hier ist kein Spiel.“ Er nickt, schüttelt mir die Hand und weist mit seiner anderen auf die Tür. „Gute Besserung.“
Ich sage nichts darauf und frage mich sowieso, weshalb er so etwas sagt… zu mir, wo mir doch lange nicht mehr geholfen werden kann…
*
Die Luft ist ähnlich stickig wie beim letzten Mal, als ich das Café West End erreiche.
Drei Tische sind besetzt; an dem einen sitzen ein Mann und eine Frau, die beiden könnten Mutter und Sohn sein. Die Frau hat eine aufgeblasene Fönfrisur, kirschrot geschminkte Lippen und einen braunen Teint, der wohl ihre Alterserscheinungen im Gesicht kaschieren soll, und sie blättert in einem Modeprospekt, während der Mann ihr geistesabwesend gegenübersitzt, er ist ein junger, dünner, schlaksiger Kerl mit borstigen schwarzen Stoppeln auf dem Kopf und am Kinn. An einem zweiten Tisch unterhalten sich zwei ältere Damen miteinander; beide haben ein großes Stück Schwarzwälderkirschtorte vor sich und kommen vor lauter Erzählen nur selten dazu, sich eine Gabel voll in den Mund zu schieben.
Und ganz hinten in der Ecke entdecke ich einen Mann im Anzug, der allein dort sitzt, Zeitung liest und sich ab und zu die Kaffeetasse an die Lippen setzt.
Reiner steht hinter der Theke und kocht gerade neuen Kaffee, als ich mir einen Platz am Fenster suche. Heute läuft leise Musik im Café; vielleicht war das bei meinem letzten Besuch auch schon so und ich habe es nur nicht wahrgenommen. „I never made promises lightly. And there have been some that I’ve broken. But I swear in the days still left: We’ll walk in fields of gold…“, ertönt die zarte Stimme einer Frau leise aus den Lautsprechern; ich glaube die Sängerin heißt Eva Cassidy und ist bereits gestorben. Wie schön, dass diese wunderbare, reine Stimme auch noch nach ihrem Tod für sie weiterlebt; dass ihre Stimme sie unsterblich macht und einen Teil von ihr immer hier auf der Erde behält. Und was wird von mir bleiben?
„Hallo!“, sagt Reiner, der mich mit kurzen, nervösen Blicken mustert und meinen Tisch mit einem feuchten Lappen abwischt, während ich mich setze. „Wieder einen Marmorkuchen?“
„Nein“, antworte ich und bin nicht ganz bei der Sache dabei; meine Aufmerksamkeit gilt noch immer der Sängerin im Radio- „Nur ein Wasser bitte.“
Das Wasser kommt schnell, es schmeckt aber abgestanden und alt.
Der Mann im Anzug hat seinen Kaffee ausgetrunken, faltet seine Zeitung zusammen und geht; wahrscheinlich ist er ein viel beschäftigter Mensch und muss zurück ins Büro, sich mit Kunden treffen oder zu einem Geschäftsgespräch. Ich sehe ihn wie durch einen Schleier hindurch das Café verlassen und auf die laute, belebte Straße treten.
Plötzlich ist nichts mehr klar, als ich meinen Blick vom Fenster zur Außenwelt löse; den Teint der Mutter mit ihrem erwachsenen Sohn sehe ich lange nicht mehr so dunkel wie beim Eintreten, sogar ihr kirschroter Lippenstift scheint in Zwischenzeit verblasst zu sein.
Selbst als Reiner sich zu mir gesellt und auf dem Stuhl mir gegenüber Platz nimmt, wache ich nicht aus meinem tranceartigen Zustand auf; alles ist verwischt und unklar, alles!
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragt Reiner von weit her.
Habe ich es mir so deutlich ansehen lassen?
Ich blinzle ein paar Mal, trinke das Wasser aus und schüttle den Kopf. „Nein, es ist nichts… haben Sie das Geld schon wieder zurückgelegt?“
Reiner sieht kurz so aus, als wolle er in Panik davonlaufen, doch er reißt sich zusammen und sagt nur: „Nein, wie denn auch. Ich stecke bis zum Hals in Schulden…“ Er rauft sich das nicht vorhandene Haar und guckt im Café umher, um zu prüfen, ob irgendein Gast noch etwas wünscht. Nur ich weiß, dass er das bloß tut, um meinem Blick nicht zu begegnen.
Ich bleibe für einige Sekunden regungslos sitzen, bevor ich entschlossen in meine Tasche greife und etwas daraus hervorziehe. Reiner riskiert einen flüchtigen Blick und als er das grüne, raschelnde Papier zwischen meinen Fingern aufblitzen sieht, weitet er erschrocken die Augen. Er sieht fast so aus, als hätte er gerade ein Gespenst gesehen.
Ich lehne mich auf den Tisch, um ein wenig näher an ihm zu sein, und flüstere: „Ich weiß nicht, wie viel es war, aber das hier sind 400 Euro und ich möchte, dass du sie jetzt in die Kasse legen gehst, bevor jemand merkt, dass Geld fehlt.“
Reiner starrt mich versteinert an. Er wirkt regelrecht erschüttert über mein Angebot. „Aber ich kann – Sie können nicht – ich-“, stammelt er.
„Doch, du kannst. Bitte leg es einfach zurück, ich brauche es nicht mehr.“ Und möglichst vorsichtig, sodass keiner der anwesenden Gäste etwas davon mitbekommt, schiebe ich Reiner meine flache Hand auf dem Tisch entgegen, unter der vier 100€-Scheine verborgen liegen. „Du verlierst den Job, wenn herauskommt, dass du Geld gestohlen hast, und so wirst du deine Schulden nie los.“ Mein Blick ist aufrichtig und ehrlich, jedoch scheint er Reiner nicht zu überzeugen. Seine eigentlich kleinen, misstrauischen Augen sind zu zwei großen, runden Bällen geworden, die mich anstieren, ohne zu blinzeln. „Ich kann nicht-“
In diesem Moment betritt ein junger Mann mit strähnigem, blondem Haar das West End; ich erkenne ihn als den griesgrämig spülenden Kellner wieder, der auch heute nicht viel fröhlicher aus der Wäsche guckt.
Er bleibt verdattert stehen, als er Reiner weder an der Theke noch bei einem Gast am Tisch erblicken kann, und ist umso überraschter, ihn schließlich bei mir mit schreckgeweiteten Augen und angehaltenem Atem vorzufinden.
„Hallo Reiner. Kann ich dich mal sprechen?“ Seine Stimme hat eine Kühle, die mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Der Mann ist anscheinend der Besitzer des Cafés; vielleicht hat er es geerbt…
Reiner starrt mich noch eine zeitlang an, bevor er aufsteht und seinem Chef nachläuft, der bereits mit großen Schritten das Caféhaus durchquert. Ich folge den beiden mit meinem Blick, bis sie hinter der Theke stehen und der junge, blonde Mann wütend auf Reiner einzusprechen beginnt.
Obwohl ich keinen Ton ihres Wortwechsels verstehen kann, erahne ich, worum es geht… es kann nur darum gehen…
Ich spüre die Geldscheine fest unter meiner Handfläche, atme tief ein und aus und gehe dann in großen Schritten auf die Bartheke zu, hinter der sich die beiden Männer hitzig unterhalten.
Als ich sie erreiche, schnappe ich gerade noch ein „200€ können sich nicht in Luft auflösen“ auf und spüre dann den wütenden Blick des blonden Kellners, der sich just in diesem Augenblicke zu mir umdreht. „Was kann ich für Sie tun?“, sagt er und will freundlich klingen, doch das ist bei seiner Stimmlage überhaupt nicht möglich. Reiner steht eingeschüchtert neben ihm und wagt es nicht, mich anzugucken… es ist, als hätte er wahnsinnige Angst davor, dass mein Blick ihn treffen und somit töten könnte.
„Es geht um das Geld, nicht wahr? Um die fehlenden 200€“, rücke ich mein Anliegen direkt heraus. Jetzt, endlich, wendet sich auch Reiner zu mir um und jegliche Farbe weicht aus seinem Gesicht. Er schüttelt vage den Kopf, doch ich konzentriere mich nicht auf ihn, sondern auf den Mann, der neben ihm steht und mich kritisch betrachtet.
„Woher wissen Sie davon?“, fragt er spitz und kräuselt die Stirn.
„Weil ich das Geld genommen habe. Gestern, als Reiner einen Moment nicht an der Theke war, bin ich zur Kasse gegangen und habe 200€ rausgenommen. Es tut mir leid.“
Der Mann will gerade ein ungläubiges „es tut Ihnen leid?“ hervorstoßen, doch bevor er dazu kommen kann, lege ich meine vier 100€-Scheine auf das blanke Holz der Theke. „Das ist für Sie. Es tut mir leid, Sie so sehr verärgert zu haben.“ Ohne auf eine Erwiderung des vollkommen perplex dastehenden Chefs zu warten, wende ich mich um und verlasse das West End mit einer Seelenruhe und einer inneren Zufriedenheit im Bauch, die mir selbst ein Rätsel sind.
*
Das Wetter ist noch immer ruppig und ein steifer Wind weht, als ich den kleinen Park erreiche, der an Reiners Zielhaltestelle liegt. Mir ist nicht danach, nach Hause zu gehen, aber genauso wenig möchte ich in großer Gesellschaft sein.
Der Park bietet die perfekte Alternative: Er ist ruhig, er ist einsam, aber man ist doch irgendwie nie allein, denn dort sind die Bäume, die Vögel und die Hunde mit ihren Herrchen, die ab und zu an einem vorbeiziehen…
Die Landschaft ist beinahe einheitlich gefärbt; das Gras auf den Wiesen ist dunkelgrau vom Frost und die kahlen Bäume ragen wie dunkle, tote Riesen mit spinnbeinigen Ästen in den grauen Sturmhimmel. Ich setze mich auf eine der Bänke neben einigen Blumenbeeten, die so grau sind wie der Stein, der sie vom Weg abgrenzt, und schaue mich im menschenleeren Park um. Im Frühjahr wird hier alles erstrahlen vor Farben; es wir rot, lila, gelb, weiß und orange schillern und scheinen und niemand wird sich mehr an das Grau des Winters erinnern; an das kalte, erdrückende Grau der Bäume, der Blumen und des Grases.
Ich sehe hinauf in den Himmel und frage mich im Stillen, ob es mir vergönnt ist, dies noch einmal zu erleben… noch ein einziges, letztes Mal, intensiver als all die anderen vielen Male, in denen ich die Chance hatte, es zu genießen und es nicht getan habe, weil ich fälschlicher Weise angenommen hatte, noch so viele weitere Frühjahre in meinem Leben erleben zu können…
Bevor ich vollends in Gedanken versinke, erregt eine Bewegung in einigen Metern Entfernung meine Aufmerksamkeit. Dort, im dunklen Schatten der gespenstischen, tief schlafenden Bäume etwa 20 Schritte vor meiner Bank, steht eine junge, hübsche Frau mit dunkel gewelltem Haar, die einen Kinderwagen schiebt. Sie ist stehen geblieben, da ein Mann neben sie getreten ist, dessen Haar ebenfalls dunkel ist, viel dunkler als sein leicht brauner Teint, der neben diesem tiefbraunen Haupthaar beinahe weiß wirkt. So wie manchmal der Schnee grau aussieht, wenn man etwas noch viel Weißeres daneben hält…
Die beiden unterhalten sich mit Händen und Füßen miteinander; der Mann hat beide Arme nach vorn gestreckt und fuchtelt mit ihnen herum, vielleicht, um seinen Worten so Nachdruck zu verleihen. Die Frau hält ihm ihre linke Hand warnend entgegen, wie eine Art Schutzbarriere, damit er ihr ja nicht zu nahe tritt. Mit der anderen krallt sie sich geradezu am Griff des Kinderwagens fest, so als würde diese dünne Stange ihr den letzten Halt über einem tiefen, klaffenden Abgrund bieten, in den sie jede Sekunde hineinzustürzen droht.
Erst nach einer Weile des Hinsehens erkenne ich die hübsche Frau wieder; es handelt sich um Lucia, die älteste Tochter Margheritas, die ihr kleines Töchterchen Paola spazieren fährt. Und der Mann, so vermute ich, ist ihr Freund Guiseppe, mit dem sie Streit hat.
Ich beschließe, nicht mehr auf die beiden zu achten, ich kann mich nicht auch noch bei ihnen einmischen, wahrscheinlich habe ich mich sowieso schon zu sehr in diese Familie hineingedrängt, in diese wunderbare, tolle Familie, eine Familie, wie ich sie nie besessen habe.
Stattdessen betrachte ich erneut den Himmel, der durch einige der am Wegesrand stehenden kahlen Bäume verdeckt wird; sie bilden beinahe ein geschlossenes Gitter, das mir den Blick auf die graue Wolkendecke verwähren soll. Plötzlich fühle ich mich beengt und gefangen; diese Bäume haben mich in die Enge getrieben und lassen mich nicht mehr hinaus, es ist längst zu spät, davonzulaufen… gerade will ich mich erheben und doch den Heimweg antreten, da sehe ich aus dem Augenwinkel heraus, dass Lucia und Guiseppe sich nicht mehr unterhalten. Der junge Mann steht noch an genau derselben Stelle wie eben, nur seine Pose hat sich ein klein wenig geändert: Er hat seine Arme fallen lassen, sie baumeln ihm nun wie zwei leblose, schlaffe Schlangenkörper von den Schultern und sein helles Gesicht schaut zu mir herüber. Nein, nicht zu mir, wird mir dann klar, sondern zu Lucia; sie kommt nämlich mit ihrem Kinderwagen auf die Bank zu, auf der ich sitze.
In ihrer Rage lässt sie sich neben mich fallen, ohne mir auch nur einen Blick zuzuwerfen. In ihren beinahe schwarzen Augen flammt noch immer die blanke Wut wie ein großes, heiß loderndes Feuer jenseits ihrer Pupillen Der Kinderwagen steht vor ihr und kein Geräusch dringt aus ihm heraus; die kleine Paola wird schlafen und von dem lauten Streit ihrer Eltern nichts mitgekriegt haben.
Es vergehen ein paar Sekunden, in denen ich überlege, weshalb ich nicht gehe, obwohl ich es ja eigentlich beabsichtigt hatte. Lucia dreht sich beinahe im selben Moment zu mir um, in dem ich diesen Gedanken fasse, und es sieht so aus, als würde sie scharf nachdenken.
„Ich kenne Sie doch“, sagt sie barsch, aber ich weiß, dass sie nicht so klingen wollte und dass einzig die flammende Wut in ihren Augen dafür verantwortlich ist, die noch eine Weile braucht, um abzuklingen. „Sie kennen meine Mutter, oder?“
„Ja“, erwidre ich knapp.
Nun, da das geklärt wäre, wendet sich Lucia wieder nach vorn und sieht Guiseppe dabei zu, wie er ihr den Rücken zukehrt und mit kleinen aber zügigen Schritten den Park zur anderen Seite hin verlässt.
Sie wartet, bis er nicht mehr zu sehen ist, um dann zu sagen: „Ist meine Mutter zuhause? Waren Sie heute schon bei ihr?“
„Nein.“ Ich blinzle in die milchige Sonnenkugel, die hinter einigen dichten Wolken aufgetaucht ist und ein spärliches, bleiches Licht verbreitet. „Für Sie wird sie aber Zeit haben.“, füge ich nach einer Pause leise hinzu.
„Hah“, macht Lucia und wirft sich mit einer Kopfbewegung das lange, buschige Haar auf den Rücken, „was glauben Sie, warum ich ausgezogen bin: weil sie nie Zeit für mich hatte.“ Die junge Mutter langt mit der Hand in den Kinderwagen und streicht ihrem süß schlummernden Kindchen über die Wange, vielleicht, um mir ohne Worte zu erklären, dass sie für ihre Tochter immer Zeit haben wird.
„Na ja“, beginne ich, als wieder einige sehr stille Sekunden verstrichen sind, „reicht nicht manchmal allein ihre simple Anwesenheit? Wir wollen immer, dass man sich um uns kümFranco, dass jemand kommt und Zeit für uns hat, nur für uns allein. Sollten wir uns nicht manchmal einfach nur damit zufrieden geben, dass wir jemanden haben, auch wenn er nicht immer zur Stelle ist? Ein Mensch, der uns liebt, ist nicht nur dann da, wenn er auch leibhaftig vor uns steht… seine Anwesenheit ist immer und egal wo wir uns befinden in uns, und allein das würde mir genügen… Es muss herrlich sein, nach Hause zu kommen und immer zu wissen, dass in diesem Haus, in dieser Wohnung oder wo auch immer Menschen leben, die auf mich warten und sich abgöttisch freuen, wenn ich wieder da bin… und wenn wir dann mal alleine sind, dann sind diese Menschen trotzdem da, sie werden uns niemals verlassen, solange wir leben, und auch danach noch nicht…“ Nach diesen wirren Worten, die einfach so aus mir herausgeflossen sind, ohne sich vorher großartig zu sortieren, versagt meine Stimme und ich kann das blendende Sonnenlicht nicht länger ertragen.
Ich schaue deshalb auf den grauen Kiesboden nieder und habe fast vergessen, dass die junge Frau noch immer neben mir sitzt und sich meine Rede stillschweigend angehört hat. Einen Augenblick überlege ich sogar scharf, ob ich das alles gerade eben wirklich ausgesprochen oder nur gedacht habe… nur eines weiß ich sicher, nämlich dass ich längst nicht mehr für Lucia geredet habe oder für ihre Mutter, die nicht hier ist, sondern für mich ganz allein…
Ich verlasse den Park und lasse die junge Frau mit ihrem Baby allein, verdutzt und reglos auf der Bank zurück.

~5~

Tag 5: Freitag

Es ist merkwürdig, dass ich an diesem Morgen so zerstreut bin, obwohl ich doch schon so lange die Gewissheit hatte, dass der Moment irgendwann einmal kommen würde.
Es ist wie früher in der Schule: Man nimmt sich vor, in den Ferien etwas für den Unterricht zu büffeln und nach zwei Wochen, am Sonntagabend des letzten Tages, steht man da, ohne sich auch nur das Geringste angesehen zu haben… im Voraus war alles so schön geplant und hat so einfach geklungen, zu sagen: „Ich habe ja schließlich zwei Wochen Zeit…“ und im Nachhinein ist die Zeit nur so dahingeflossen wie weicher, französischer Camembert, den man zu lange in der Sonne hat liegen lassen…
Ähnlich geht es mir jetzt, nur dass ich mit Gewissheit sagen kann, dass für mich keine nächsten Ferien in Betracht kommen werden, in denen ich das, was ich versäumt habe zu lernen, nachholen könnte. Die Situation ist gleich und irgendwie doch wieder nicht dieselbe; es klingt makaber, beides miteinander zu vergleichen und führt doch auf dasselbe hinaus…
Ich weiß, dass ich an diesem Freitagmorgen nicht zur Bushaltestelle gehen sollte, ich muss mich ausruhen und so fühle ich mich auch, aber genau gegen dieses Gefühl gilt es jetzt anzukämpfen: Müdigkeit. Denn noch größer als die Abgeschlagenheit ist das Bedürfnis, sie zu besiegen, indem ich meinen Alltag so verlebe, wie ich es früher auch getan habe; alles ist wie früher, rein gar nichts hat sich geändert…

*

Feine Regentröpfchen peitschen mir beim Laufen ins Gesicht, sie verhindern, dass ich mit meinen Gedanken zu sehr abdrifte und ich bedaure, nicht immer solche kleinen, harten Wachmacher um mich herum haben zu können.
Vivian, Margherita und Reiner wenden sich in einer fast gleichzeitigen, synchronen Kopfbewegung zu mir um, so als hätten alle drei auf mich gewartet. Margherita schafft es, als erste das Wort zu ergreifen und ruft freudestrahlend: „Du wirst nicht glauben, es ist Wunder!“ In ihrer Aufregung hat sie wohl ganz vergessen, dass sie mich gestern noch gesiezt hat, aber ich verbessere sie auch nicht, sondern folge schlichtweg ihrem Beispiel. „Was ist den passiert? Du bist ja ganz aufgeregt.“
„Guiseppe und Lucia, sie haben zwar noch nicht ganz vertragen, aber Lucia will reden, sie sagt, gestern in Park hat sie beeindruckt“, erklärt sie hastig und drängt mich einige Meter von den beiden anderen Wartenden weg.
„Was war denn gestern im Park?“, frage ich schwer und kann mit Margheritas Überschwänglichkeit heute irgendwie nicht richtig umgehen. Ihr rundes, breites Gesicht glänzt im Schein des Nieselregens wie ein neuer Penny, der vom Licht angestrahlt wird.
„Lucia sagt, sie hat gestern in Park getroffen. Sie sagt, du warst so traurig und hast gesagt. Sie fand sehr schön was du gesagt hast!“ Anstatt mir die Chance zu geben, etwas darauf zu antworten, sagt sie noch ohne Luft zu holen: „Du musst unbedingt heute kommen zu Abendessen, ich mache Abendessen mit ganze Familie, du bist unser Gast!“
„Oh“, mache ich, weil mir im Moment auch einfach die Worte fehlen. Schon jetzt schäme ich mich, eben noch gedacht zu haben, dass ich mit Margherita heute nicht umzugehen weiß. Sie ist wunderbar, wenn sie so redet wie jetzt, sie ist eine wunderbare, dicke, runde Frau, die glaubt, es sei mir zu verdanken, dass sich ihre Tochter wieder mit ihrem Freund vertragen hat.
„Ich komme gern“, füge ich dann mit einem Lächeln hinzu und Margherita klatscht äußerst zufrieden lautlos in die Hände. „Du kannst kommen um 7 Uhr, ist gut Abendessen mit ganze Familie.“
„Hi Vivi“, sage ich leise, als die Verabredung mit Margherita steht und ich mich Reiner und dem Mädchen nähere.
„Hi.“ Sie lächelt matt und sieht so aus, als wolle sie mir etwas mitteilen, würde sich aber in Anwesenheit all dieser Leute, die mich auf (für sie) unerklärliche und mysteriöse Weise auch zu kennen scheinen, nicht so recht trauen.
Auch Reiner wirkt eher sprachlos als alles andere.
Als der Bus heranrollt und Margherita und Vivian sich aufs Einsteigen vorbereiten, hält er mich am Arm zurück. „Warte mal kurz“, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und richtet seinen Blick erst dann auf mich, als er sicher sein kann, dass die Frau und das Mädchen nicht mehr zuhören.
„Ich kann dir für das, was gestern im Café geschehen ist, nicht danken, da ich gar nicht wüsste, wie ich jemandem danken sollte, der so etwas für mich tut.“ Schon bei diesem Anfang befürchte ich eine lange, theatralische Rede, die womöglich noch dazu führt, dass wir unseren Bus verfehlen. Doch wider meine Erwartung schweigt Reiner nach diesem kurzen Satz, lächelt und umarmt mich ganz kurz, ohne mich dabei wirklich zu berühren. „Ich werde das Geld natürlich sobald es geht zurückzahlen.“
„Nein“, sage ich einfach. „Ich brauche es nicht mehr.“
Reiner sieht mich argwöhnisch an.
Der Bus ist inzwischen stehen geblieben und Leute strömen aus den Hintertüren ins Freie.
Bevor er mir eine Frage stellen kann, was noch mehr Zeit kosten würde, sage ich in einer möglichst reinen, sachlichen Tonlage: „Ich muss morgen ins Krankenhaus für… längere Zeit.“ Das letzte Wort betone ich so, dass für Reiner eindeutig klar werden muss, dass ich keine weiteren Fragen zu diesem Thema dulde, und er versteht mein Anliegen scheinbar auch. Wir gehen langsam zum Bus und steigen hintereinander ein.
Eigentlich will ich mich allein hinsetzen und warte darauf, dass Reiner sich einen Platz nimmt, doch er schaut mich einfach nur von der Seite an und zeigt mir damit eindeutig, dass er neben mir sitzen und Erklärungen haben will… da ich ihm das keineswegs verübeln kann, nehmen wir schließlich nebeneinander in einer der vorderen Reihen Platz und schweigen, bis der Bus vor der ersten roten Ampel stehen bleibt.
„Also – ich kann dir das Geld in ein paar Monaten zurückgeben, ich verspreche, dass ich es in den Griff kriege und-“
„Aber ich habe doch schon gesagt, dass ich es nicht mehr brauche“, sage ich müde; müde, ihm all das zu erklären, was ich schon seit Jahren weiß.
Er sieht mich mit dem Blick eines begriffsstutzigen Schülers an und lässt nicht locker. „Ich kann das nicht annehmen, es sind 400€!“ Und mit einem zufriedenen Schmunzeln fügt er noch hinzu: „Du hättest mal meinen Chef sehen sollen, wie er geguckt hat, als du 200€ zu viel auf den Tisch gelegt hast… er hat sich die Scheine ganz schnell eingesteckt und hat angefangen, Gläser zu spülen, als wäre nie etwas geschehen.“
„Jeder ist bestechlich“, sage ich und denke an den jungen, blonden Mann mit dem grimmigen Gesicht.
„Mir ist das trotzdem peinlich“, kehrt Reiner nach einem kurzen, gemeinsamen Moment des Grinsens zum eigentlichen Ernst des Themas zurück, „aber seit ich meinen richtigen Job verloren habe, komme ich kaum noch über die Runden, der Schuldenberg ist einfach zu groß und ich musste mir immer mehr Geld bei anderen leihen, als die Bank nichts mehr geben wollte…“
Ich sehe mir den Mann, der neben mir redet wie ein Wasserfall, genauestens von der Seite an und bin mal wieder erstaunt. Noch vor wenigen Tagen hat er mich mit seinen kleinen, misstrauischen Augen nahezu durchbohrt, und nun plaudert er mit mir wie mit einem alten Bekannten. Vielleicht hatte er einfach mal wieder das Bedürfnis danach…
„Es ist schon gut, du brauchst mir kein Geld zurückzugeben“, sage ich zum dritten Mal und erhasche gerade noch einen Blick durchs Fenster auf Vivian, die an ihrer Bushaltestelle aussteigt und bald in dem milchigen Regendunst verschwindet.
„Ich will nicht indiskret sein“, sagt Reiner vorsichtig und versucht, mit einer ruckartigen Handbewegung zu seiner großen, schweren Ledertasche, die auf seinem Schoß ruht, meine Aufmerksamkeit zurückzuerobern. Tatsächlich wende ich meinen Blick von der kleinen Vivi ab und schaue zu Reiner hinüber. „Aber du kommst doch nur ins Krankenhaus und kannst das Geld umso besser gebrauchen, wenn du wieder draußen bist…“ Er sieht mir zweifelnd in die Augen, fast als würde er befürchten, etwas unwahrscheinlich Schlimmes zur Sprache gebracht zu haben. Und ganz Unrecht hat er mit dieser Befürchtung auch gar nicht…
„Du verstehst nicht, es ist ein sehr langer Krankenhausaufenthalt…“
„Na dann erst recht!“, sagt er triumphierend. Es kommt mir so vor, als wolle er mir das Geld geradezu aufzwingen… er kann nicht leicht mit einem drückenden Gewissen leben, überlege ich, es fällt ihm schwer, Gefallen einfach anzunehmen, ohne sich dafür in irgendeiner Weise zu revanchieren.
Da ich nicht länger mit ihm diskutieren will, hole ich tief Luft und sage: „Es ist ein Krankenhauaufenthalt, von dem ich nicht mehr zurückkehren werde.“
Reiner glotzt mich an. „Ziehst du weg?“
„Ja… so ähnlich…“, erwidre ich schwach, stehe auf und will gehen, was gar nicht so leicht ist, da ich am Fenster sitze und mich erst an Reiner vorbeizwängen muss, um in den engen Gang zu gelangen. Ich ertrage es nicht länger, bei ihm zu sitzen und ihm zu erklären, dass ich gerade die letzten paar Stunden meines freien, alten Lebens verschwende…
Schwankend durchquere ich den Bus und klammere mich an der senkrechten Haltestange an den Hintertüren fest, will, dass das Gefährt endlich anhält und mich hinauslässt… ich will sofort raus, ich will rennen, egal wo ich gerade bin, ich will rennen und nie wiederkommen, aber die Hand der Zeit ist schon ganz nah, sie wird mich bald ergreifen und zerquetschen, sie hat sich bereits um mich geschlossen und wartet nur noch auf den richtigen Augenblick, zuzupacken…
Irgendwann habe ich mich wieder gesammelt und merke, dass ich mich noch immer verkrampft an den Haltestangen festklammere und meine Finger bereits schmerzen. Der Bus hat nicht gehalten, um mich hinauszulassen, und das ist vielleicht auch gut so. So kopflos wie ich gerade eben war, wäre ich wahrscheinlich keine fünf Meter weit gekommen, ohne von einem Auto überfahren zu werden. Meine Atmung geht noch schnell und flach, aber mein Gehirn ist wieder bei Verstand. Ich versuche mich angestrengt daran zu erinnern, was überhaupt der Auslöser für diesen Zustand völliger geistiger Verwirrung gewesen ist und die Antwort, die ich schließlich in den Weiten meines Gedächtnisses finde, versetzt mir einen Stich direkt in den Magen. Ich glaube mich grau daran erinnern zu können, irgendwann einmal von Doktor Franke die Symptome, die möglicherweise auftreten können, aufgezählt bekommen zu haben. Entweder ich täusche mich, was ich sehr stark hoffe, oder aber ich gehe langsam wirklich in großen Schritten auf das Ende zu, das sich wie eine hohe, schwarze, harte und unüberwindbare Wand vor mir aufbäumt und mich daran hindert, weiterzulaufen, sobald ich einmal an sie gestoßen bin… Natürlich nähere ich mich dem Ende, schimpfe ich mit mir selbst, das weißt du doch schon ewig und es gibt nichts, das dich davon abhalten kann. Keine plötzliche, unerwartete Wegkreuzung, keine Umleitung, kein Stoppschild. Die Mauer ist direkt vor mir, groß, schwarz, kalt und fest, und ich rase auf sie zu; es ist aussichtslos…
Ich weiß gar nicht mehr, wann ich mich erschöpft in eine leere Sitzreihe fallen lasse: Als ich gerade über die Mauer nachdenke oder hinterher, als meine Knie sich anfühlen, als wären sie aus Pudding und als ein plötzlicher Anfall von Schwindel meinen Körper erzittern lässt… ich weiß nur noch, dass die Leute an mir vorbeiströmen wie namenlose, gesichtslose und formlose Gestalten, die noch nicht einmal farbig sind. Sie könnten genauso gut nur Schatten ihrer selbst sein, ich würde keinen Unterschied merken. Und ich weiß noch, dass ich nach einer schier endlosen Zeit allein im Bus bin, mal abgesehen von dem Busfahrer, diesem fleißigen Menschen, der an der letzten Station weit außerhalb der Stadt ruft: „Endstation!“
Als ich keine Reaktion zeige, dreht sich der Mann zu mir um und ich sehe ihn mir erstmals genauer an: Es ist ein großer, fleischiger Mann, der in seinem Fahrersitz viel kleiner und schmächtiger wirkt als er eigentlich ist. Sein Gesicht scheint zu viel Haut abbekommen zu haben, denn sie hängt ihm in schlaffen Lappen an den Wangenknochen herab, so als wären sie eine Art Reservehaut. Seine Augen sind klein und scharf, ich weiß nicht, welche Farbe sie haben, da er zu weit von mir entfernt ist, aber sie wirken äußerst dunkel. Das Haar spreizt sich in millimeterkurzen Stoppeln von seinem runden Kopf ab und lässt das Licht, das von vorn in den Bus fällt, silbern hindurchscheinen.
„Aussteigen, das hier ist die Endstation“, ruft er mir zu und macht einen komischen Gesichtsausdruck, da ich ihn zwar äußerst aufmerksam und genau anschaue, aber nicht im Geringsten auf seine Worte reagiere. Vielleicht überlegt er gerade, ob ich Ausländer bin und er sucht sich die Worte in Englisch zusammen, doch um dem Armen Mann die Mühe zu ersparen, sage ich: „Und wohin fahren Sie nach der Endstation?“
Der Busfahrer, der von dieser Frage völlig überrumpelt wurde, öffnet den Mund, jedoch ohne dass ihm ein Laut entweicht.
„Ich meine – es muss doch so etwas geben wie ein Ziel, zu dem Sie fahren, selbst wenn das Ende erreicht ist, oder? Es geht immer irgendwie weiter…“ Ich presse mich tiefer in den unbequemen Hartschalensitz des Linienbusses hinein und höre nicht auf, den fleischigen Kopf dort vorn auf dem Fahrersitz, der verwundert zu mir nach hinten gewandt ist, anzuschauen. Wenn der arme Mensch wüsste, dass ich nicht von Bussen spreche… aber für ihn muss es so aussehen, das weiß ich.
„Nun ja“, beginnt der Fahrer stotternd, dem solch ein Gast wohl noch nie untergekommen ist, „ich mache eine Leerfahrt zurück in die Stadt, dort endet meine Schicht und der Bus wird getankt…“ Er blinzelt mich an, dann sagt er noch: „Eine Leerfahrt. Deshalb können Sie auch nicht mit.“
Ich seufze lautlos, bewege mich aber keinen Zentimeter. Sehr träge, so als würde mich das Reden eine Menge Kraft kosten, sage ich: „Ich werde Sie nicht belästigen.“ Natürlich verwirre ich den ohnehin schon sehr verlegenen Mann dadurch noch mehr, denn dieser Satz hat geklungen wie die nachgiebige Antwort auf ein Angebot, das er mir unterbreitet hat; da das allerdings nie geschehen ist, muss er sich ziemlich veralbert vorkommen.
„Also – das ist nicht erlaubt“, murmelt er. „Sagen Sie – geht es Ihnen gut?“
Diesmal bin ich überrascht, nämlich dass man mir anscheinend ansieht, wie es mir geht. Ich schüttle nur den Kopf und weise den Fahrer an, so als handle es sich bei ihm um meinen persönlichen Chauffeur: „Fahren Sie nur.“

*

Während der Fahrt erfahre ich noch einiges mehr über das Leben eines Busfahrers, und meine schlechte Laune, mit der ich heute irgendwie schon aus dem Bett gestiegen bin, verliert sich langsam aber sicher.
„Und dann musste ich den Kerl eigenhändig aus dem Bus schleppen“, jault Peter unter Lachen und hebt dabei kurzzeitig beide Hände vom Lenkrad. Ich erschrecke nicht, denn dieser Mann hat so viel Fahrroutine, dass er dieses Gefährt selbst ganz ohne Hilfe seiner Hände sicher durch den städtischen Vormittagsverkehr bringen könnte. Die Geschichte des besoffenen Fahrgastes, der ihm vor geraumer Zeit einmal den Bus vollgekotzt hat und den er dann mit bloßen Händen auf die Straße schleppen musste, hat er mit solch einer Inbrunst erzählt, dass man meinen könnte, sie bilde den Mittelpunkt seines Lebens. Ich habe mit Spaß dabei zugehört, denn die Art, wie er redet, erheitert und lässt einen alles Schlechte dieser Welt für kurze Zeit vergessen.
„Na dann bin ich doch nicht der seltsamste Fahrgast, der Ihnen je untergekommen ist“, sage ich schmunzelnd und ein wenig erleichtert zugleich. Ich habe mich in die erste Reihe gesetzt, da ich so besser mit Peter reden und ihm dabei auch ein wenig über die Schulter schauen kann.
„Iwo“, ruft dieser aus, „nachts sind Gestalten unterwegs, die können Sie sich gar nicht vorstellen. Die kommen gegen zehn, elf Uhr aus ihren Nestern und schleichen durch die Straßen – und die Linienbusse.“ Er zuckt seine fleischigen Schultern. „Frag mich nur, was die tagsüber machen…“

Peter lässt mich aussteigen, kurz bevor er an seinem Ziel angekommen ist, wo seine Schicht für heute endet.
„Das war aber eine Ausnahme“, sagt er lachend und schaut mir beim Aussteigen zu, „bis Montag dann!“
Ich werfe einen kurzen Blick zurück in diese dunkelgrünen Schweinchenaugen und schaffe es nicht, irgendetwas darauf zu erwidern. Ich nicke nur schweigend, springe hinaus auf den Gehweg und sage halblaut, als ich nur noch das Heck des davonrauschenden Busses sehen kann: „Ja… bis Montag…“

*

Am Mittag mache ich mich auf den Weg zu Vivians hübscher Doppelhaushälfte mit dem kleinen, niedlichen Vorgarten. Mein Magen fühlt sich flau an und scheint heute doppelt so groß zu sein wie sonst, aber ich muss es heute tun… ich kann dieses unschöne Ereignis nicht noch länger vor mir hinausschieben…
Sie hat sich so sehr gewünscht, all ihren Freunden erzählen zu können, dass sie einen Tag mit mehr als 24 Stunden erlebt hat… sie hat sich so sehr gewünscht, die USA kennen zu lernen… ich weiß immer noch nicht, wie ich ihr absagen soll, als ich in ihre Straße einbiege und dem schrecklichen Moment immer näher komme. Noch viel schrecklicher als das Absagen selbst ist die Tatsache, dass ich im Grunde nicht viel anders bin als Vivians Mutter, oder als ihr Vater, oder als irgendein anderer vernünftiger Erwachsener auf dieser Welt.
Ich habe ein Versprechen gebrochen; ich habe ein Versprechen nicht einhalten können, das ich einem kleinen, vertrauensvollen Kind gegeben habe.
Ich bin keinen Doit besser als alle anderen Erwachsenen da draußen, die ihre Versprechen nicht einhalten können und die Kinder in ihren Wünschen nicht ernst nehmen…
Ich hätte gleich sagen sollen: „Das geht nicht, wir können nicht einfach nach Amerika fahren, das ist unmöglich.“ So hätte ich Vivian für ein paar Stunden wehgetan, vielleicht auch für ein paar Tage, aber ich hätte ihr keine Hoffnung zerstört, die ich selbst für sie aufgebaut habe.
Mit meinem Versuch, alles besser zu machen, bin ich elendig gescheitert und habe alles schlimmer und schwieriger gemacht als es hätte sein müssen…

Eine freudestrahlende, glückliche Vivian öffnet mir die Haustür, kaum habe ich den Vorgarten betreten.
Wahrscheinlich hat die Kleine vor dem Fenster auf mich gewartet und ist sofort zur Tür gesprintet, als sie mich gesehen hat.
Ein Lächeln will mir nicht ganz gelingen, daher versuche ich es gar nicht erst weiter.
Ich muss es ihr gleich sagen, jetzt sofort, ich darf sie nicht noch länger in dem Glauben lassen, dass wir bald gemeinsam in die USA reisen…
„Hallo Vivi“, sage ich leise und wuschle dem Kind durch sein seidiges, braunes Haar.
„Ich hab meiner Mama noch nichts von Amerika verraten“, haucht Vivian mir zu und legt ein verschmitztes, schelmisches Grinsen auf. „Sie würde es mir verbieten. Wir müssen abhauen, irgendwann in der Nacht, wenn sie es nicht mitbekommt.“
„Vivi, hör mal zu…“
„Ich bin noch nie geflogen, ist Fliegen schön? Katarina aus meiner Klasse hat mal erzählt, dass es im Flugzeug so sehr schaukelt, dass alle Becher mit Getränken umkippen! Ist das wahr?“
„Vivi, komm mal bitte mit.“ Ich ergreife ihr kleines, dünnes Handgelenk und führe sie auf den Gehweg, um ein Stückchen mit ihr zu laufen.
Nach ein paar bedrückenden Sekundenbruchteilen, in denen wir beide geschwiegen haben, sage ich zögernd: „Wir – wir können nicht nach Amerika fliegen.“ Jedes einzelne Wort tut mir weh und scheint irgendetwas in meinem Körper zu zerstechen. Das Kind neben mir schaut glasig zu mir hoch, so als hätte es meine Worte zwar vernommen, aber nicht begriffen.
„Ich muss ins Krankenhaus und… kann zurzeit nicht verreisen“, füge ich noch hinzu, um der Wahrheit ein wenig Linderung zu verschaffen und um mich vor dem Kind zu rechtfertigen.
„Bist du krank?“, fragt Vivian und bleibt erschrocken stehen.
„Nein, nicht wirklich krank.“ Ich streife die Schulter des kleinen Mädchens und habe das Bedürfnis, es in den Arm zu nehmen und zu trösten, obwohl es im Augenblick eher geschockt als traurig aussieht.
„Aber ich möchte so gerne nach Amerika mit dir…“ Vivian seufzt, setzt sich mit hängendem Kopf auf die Bordsteinkante und spielt mit kleinen Kieselsteinchen, die auf der Erde liegen. Ich setze mich neben sie und ringe nach Worten, die sich nicht recht zusammensuchen lassen. Irgendwann sage ich zerstreut: „Weißt du, manchmal kann man auch an einem Ort sein, wenn man ihn sich nur ganz, ganz doll vorstellt. Manchmal stelle ich mir vor, wie es früher zuhause war, als ich noch ein Kind war, und dann ist es, als wäre ich wirklich dort…“
„Aber ich weiß doch gar nicht, wie es in Amerika aussieht!“ Vivians großen Augen füllen sich mit Tränen, zumindest sieht es im Schein der tief stehenden Nachmittagssonne so aus.
Irgendetwas kribbelt in der Gegend hinter meinen eigenen Augen beim Anblick dieses kleinen, enttäuschten Mädchens und ich brauche eine Weile, um zu realisieren, dass es das Bedürfnis ist, zu weinen. Ich überlege scharf, warum es mir so geht; warum es mir zum ersten Mal seit sehr langer Zeit so geht… doch mein Verstand ist im Moment nicht klar genug, um die Antwort darauf deutlich herauszukristallisieren; es hat irgendetwas zu tun mit der Hoffnung des kleinen Mädchens, die ich zertrampelt habe wie eine Sandburg, dazu kommt die Tatsache, dass ich wohl gerade meine eigene letzte Chance verloren habe, noch einmal in meinem Leben zu verreisen, und das alles wird noch verstärkt durch meine Erinnerung an früher, an zuhause, an meine Eltern, an meine Kindheit, an diese Zeit, als ich noch klein und schutzbedürftig war und mich bei meiner Mama hinter dem Rücken verstecken konnte, wenn ein Fremder kam, der mir nicht geheuer war… ich brauche deinen schützenden Rücken auch jetzt, Mama, biete ihn mir doch bitte noch einmal an, ein allerletztes Mal, ich denke, das habe ich mir nach all den Jahren verdient…
Ich wische mir eine Träne aus dem Augenwinkel, bevor Vivian sie sehen kann und antworte dann auf ihren letzten Satz, den sie vor einer halben Ewigkeit ausgesprochen zu haben scheint. „Also, Amerika… die USA sind ein riesengroßes Land, das aus ganz vielen kleinen Teilen besteht. Es gibt dort Städte, Meere, Wälder, Wüsten, Täler, Berge und Flüsse… Unsere Reise beginnt in New York, der allergrößten und schönsten Stadt in diesem fernen Land. Es gibt dort Häuser, die so riesig sind, dass man ihre Spitzen vom Boden aus oft nicht sehen kann, weil sie in den Wolken stecken. Und es gibt Menschen dort! So viele Menschen auf einem Haufen wie an kaum einem anderen Ort…“ Es scheinen Stunden zu vergehen, in denen ich Vivian von Amerika erzähle, damit sie sich ganz fest vorstellen kann, dort zu sein.
Die Sonne ist bereits zur Hälfte untergegangen, als wir aufstehen und frierend zu Vivians Haus zurückkehren.
„Meine Mama ist bestimmt böse, dass ich so spät wieder da bin“, sagt sie, als wir das Gartentürchen erreichen.
„Sag ihr doch einfach, dass du noch in Amerika warst.“ Ich lächle traurig, tätschle dem kleinen Mädchen die Schultern und mache mich auf den Weg nach Hause… vielleicht zum allerletzten Mal.

*

Ich liege zuhause auf dem Bett und beobachte, wie sich die Dunkelheit über meinen Möbeln und Einrichtungsgegenständen niederlässt wie Staub im aufgewirbelten Wasser. Nur sehr, sehr langsam, Stück für Stück, wie in Zeitlupe, wird das Weiß grau und das Grau schwarz. Schon bald kann ich Schatten nicht mehr von wirklichen Gebilden unterscheiden.
Es ist vollkommen still hier drin, nichts klappert, nichts gluckert, nichts rauscht.
Trotzdem schrecke ich nach ein paar sehr entspannenden Minuten wie aus einem furchtbaren Albtraum hoch – ich habe das Abendessen mit Margherita vergessen!
Hastig stehe ich auf, streiche meine Sachen glatt und werfe einen Blick auf die Uhr.
Es ist fünf Minuten vor sieben.
Noch kann ich es mit nur wenigen Minuten Verspätung schaffen-

*

Und ich bin im Nachhinein wirklich froh, es getan zu haben.
Ich bin mir sicher, dass mir dieser Abend vor meiner Einlieferung ins Krankenhaus und somit in die Gefangenschaft den folgenden Tag erheblich leichter und um einiges erträglicher gemacht hat.
Erstmals bekomme ich die komplette Familie zu Gesicht, einschließlich Lucia, Guiseppe und der kleinen Paola. Eine Gruppe von neun Menschen verschiedener Altersgruppen ist um einen breiten, runden Tisch im Esszimmer versammelt, nur zwei Plätze sind frei. Margherita, die mir die Tür geöffnet hat, deutet strahlend auf den einen, während sie auf dem anderen Stuhl Platz nimmt.
Das Gemurmel, Gekicher und Gekabbel am Tisch verstummt, sobald die Mutter sich hingesetzt hat. „Das ist unser Gast heute Abend.“
„Hallo!“, rufen zwei hübsche Jungen, die etwa zehn Jahre alt sein könnten und sich gleichen wie ein Ei dem anderen – es sind Zwillinge. Bevor ich mir die beiden genauer anschauen kann, lehnt sich Lucia, die neben mir sitzt, mit einem dankbaren, fast ein wenig ehrfürchtigen Lächeln zu mir herüber und sagt: „Das neulich im Park war wirklich rührend…“
„Oh-“, sage ich verblüfft, „eigentlich war das gar nicht beabsichtigt.“
Lucias Lächeln erstirbt für einen kurzen Moment, kehrt dann aber zum Glück wieder. „Egal. Hauptsache es hat gewirkt, oder?“ Und, indem sie sich noch näher zu mir heranbeugt, flüstert sie hinter vorgehaltener Hand: „Ich habe Guiseppe noch nicht ganz verziehen, er muss mir erst noch beweisen, dass er mich und Paola wirklich zurückhaben will.“ Sie kichert gehässig, setzt wieder ihren Brave-Mädchen-Blick auf und schaut flüchtig zu ihrer linken Seite, wo Guiseppe sitzt und nichts von dem Gespräch zwischen mir und seiner Freundin mitbekommen hat, da er sich gerade angeregt mit einem älteren, dürren Mann mit braunem Haar und Schnurrbart, die mit einigen weißen Strähnen durchzogen sind, unterhält. Anscheinend ist er Margheritas Mann und der Vater dieser Bande, was ich auch schon im nächsten Augenblick erfahren soll.
„Stellt euch unserem Gast vor“, sagt Margherita mit einem leisen Schlag an ihr Glas, um für Ruhe zu sorgen. „Fang an, Penelope.“ Sie stößt das kleine Mädchen mit den strohigen Zöpfen, das neben ihr unruhig auf seinem Platz herumhopst, mit dem Ellbogen an. „Ich bin Penelope“, beginnt die Kleine und kann es nicht lassen, nach jedem Wort loszulachen. „Ich bin 10 und mag Mathe in der Schule.“
„Ahhh!“, macht das etwas ältere, größere und ruhiger wirkende Mädchen neben ihr, „Mathe ist nicht gut, nur Lesen!“
„Dann mach du doch weiter!“, keift die mit den Zöpfen und zieht einen Schmollmund, der sich eine Sekunde später jedoch bereits wieder entzerrt hat und zu einem Grinsen geworden ist, weil die Zwillinge am anderen Ende des Tisches Grimassen schneiden.
„Ich bin Elena, bin 12 und lese am liebsten in der Schule.“ Elena hat schulterlange, mattschwarze Haare, die sehr steif aussehen, was wohl aber von Natur aus so ist. Ihr rundes Gesichtchen wirkt durch die sehr spitz zulaufenden Augen und die wellenlinienförmig geschwungenen, dunklen Brauen streng und erfahren.
„Und ich heiße Luciano, und ich mag gar nichts in der Schule!“, erklärt der Junge neben Elena, so als hätte er mit diesem Satz etwas unglaublich Verblüffendes enthüllt.
Die Zwillinge prusten los, Margherita jedoch legt einen bösen Blick auf, den der Junge sofort versteht und schnell anfügt: „Na ja, Erdkunde ist ganz ok. Ich bin 14 und bin der Zweitälteste!“ Diesen letzten Satz hat er sehr schnell ausgesprochen, so als wäre er ihm erst in allerletzter Sekunde siedend heiß eingefallen. Er ist hochgewachsen und schlank, hat leicht gewelltes, im Gegensatz zu seiner Schwester Elena sehr hellschwarzes und glänzendes Haar und trägt eine Brille. Nach Luciano sind die Zwillinge an der Reihe.
„Ich bin Carlo“
„Und ich Franco“
„Ich bin der Ältere von uns beiden“, ruft Carlo überdreht.
„Aber nur eine Minute!“, erwidert Franco giftig.
„Trotzdem!“ Carlo verschränkt die Arme vor der Brust und setzt eine gebieterische Miene auf. „Wir sind 9, und ich bin 1 Minute älter als dieses kleine Kind.“ Er sieht seinen Zwillingsbruder erwartungsvoll an und als dieser seine Erwartung erfüllt, indem er ihm in die Seite boxt, gackert Carlo wie verrückt los.
„Schluss!“, ruft Margherita dazwischen und haut mit der flachen Hand auf den Tisch, woraufhin die beiden Nesthäkchen augenblicklich verstummen.
„Ich heiße Vincenzo“, stellt sich nun der Familienvater vor; seine Stimme hat etwas von einem Erzähler oder zumindest von jemandem, der beruflich sehr viel redet. „Ich freue mich sehr, heute Abend einen netten Gast bei uns zu haben.“ Er sieht mich an und lächelt dabei nur andeutungsweise, aber sein Blick ist offen und freundlich; er bringt mich fast dazu, mich vor diesem scheinbar sehr weisen Mann, der so viel älter aussieht als er wahrscheinlich tatsächlich ist, vor Ehrerbietung zu verneigen.
„Ich bin Guiseppe.“ Die Stimme, die nach dieser warmen, gleichmäßigen Tonlage Vincenzos spricht, ist das komplette Gegenteil des eben Gehörten: Sie ist hart und kühl, die Worte werden geradezu aus dem Mund hinausgeschleudert und prallen gegen den Holztisch, um daran zu zerschellen. Doch der Mann, von dem sie stammen, sieht trotzdem nett und liebenswürdig aus; er hat kleine Augen, eine kleine Nase und überhaupt scheint alles in seinem Gesicht recht klein zu sein, außer sein Kinn, das sich etwas zu weit nach vorn reckt. Über seiner Oberlippe wächst ihm ein schmaler, dünner Bart, der vielleicht die sehr winzig geratenen Lippen kaschieren und optisch breiter wirken lassen soll. „Und Lucia und Paola sind das Wichtigste für mich.“ Er zwinkert zu seiner Freundin herüber, deren Miene gleichgültig und versteinert ist. Ganz bestimmt hat sie hinter dieser Fassade der Satz sehr gerührt.
„Na ja, und ich bin Lucia, ihr kennt mich ja schon“, sagt sie schließlich. Alle lachen über diesen Witz der ältesten Tochter, selbst die kleine Paola, die in einem Laufstall abseits der Tafelrunde sitzt und auf ihrem Kuschelteddy herumkaut, gluckst vergnügt.
„Gut, nun du!“, sagt Margherita und scheint trotz der gelegentlichen Einwürfe und Zwischenrufe der Zwillinge insgesamt zufrieden mit der Vorstellungsrunde. Ihre Wangen glühen vor Fröhlichkeit und Geselligkeit; sie leuchtet mir förmlich entgegen.
„Ich bin-“ Ich lasse meinen Blick über die Runde von Menschen schweifen, die ich größtenteils gar nicht kenne und die mir trotzdem schon so ungemein nahe sind. „Ich bin einfach nur verdammt froh, heute Abend hier mit euch essen zu können. Mit der tollsten Familie, die ich kenne!“
Eltern und Geschwister brechen in ein anerkennendes Jubeln aus und erheben endlich alle ihre Gläser, um zu trinken.

In den nächsten zwei Stunden wird nur gegessen, getrunken, geredet und gelacht, und nichts und niemand kann mir mehr die schlechte Laune zurückgeben, die heute Morgen noch jeden Zentimeter von mir ausgefüllt hat. Es ist, als wäre ein riesiger, mächtiger Wirbelsturm durch meinen Körper gestoben, der jeglichen traurigen und trüben Gedanken verjagt hat, um nichts als Glück zurückzulassen.
Erst, als sich der Abend dem Ende zuneigt und ich helfe, das Geschirr in die Küche zu tragen, ebben die Erinnerungen an das, was mir morgen bevorsteht, zurück in mein Gewissen. Auch Margherita scheint sich in diesem Moment zu entsinnen und fragt: „Du… bist morgen in Krankenhaus, oder?“
„Ja“, erwidre ich und versuche, möglichst sorglos zu klingen. Das gelingt mir allerdings nur kläglich und meine Stimme wirkt sehr belegt und künstlich.
„Ich werde besuchen kommen“, sagt Margherita, während sie Teller in die Spülmaschine einsortiert. Ich antworte ihr nicht, sondern schaue mich nach irgendeiner sinnvollen Beschäftigung um, um dieses Gespräch, das noch gar nicht richtig begonnen hat, schnell zu beenden. Zur gleichen Zeit tritt Elena in die Küche und stellt einen Stapel Gläser auf die Anrichte.
„Elena, du liest gern, oder?“, frage ich das Mädchen und bin fasziniert von diesen spitzen, beinahe dreieckig zu beiden Seiten zulaufenden Augen.
„Ja“, erwidert das Mädchen schüchtern.
„Ah, ich musste schon in Schule wegen Elena, Elena wird geärgert manchmal von Jungs“, wirft Margherita an dieser Stelle ein, was das arme Kind noch mehr in Verlegenheit bringt.
„Du brauchst dich deshalb nicht zu schämen“, sage ich ehrlich und lächle nicht.
Elena schaut zweifelnd zu mir auf.
„Diese Jungs ärgern dich nur, weil sie im Grunde Angst vor dir haben.“
„Angst?“, fragt Elena und lacht kurz auf.
„Ja, sicher. Weil du anders bist als andere Mädchen, kennen sie dich nicht und können dich nicht einschätzen. Die Menschen haben immer Angst vor dem, was sie nicht kennen.“
Das Mädchen vor mir scheint vor meinen Augen zu wachsen. Es verknotet seine Finger und zuckt gleichzeitig die Schultern: Es ist hin- und hergerissen.
„Ich kenne ein Mädchen, das etwa genauso alt ist wie du und mit dem du dich sicher gut vertragen würdest!“, sage ich und Vivians Bild blitzt vor meinen Augen auf. „Sie liest auch sehr gerne.“
„Wirklich?“ Elena lächelt und nimmt die Adresse, die ich ihr auf einen Fetzen Papier schreibe, zwar wortlos, aber tief im Innern doch dankbar entgegen.
„Ich wünsche dir viel Glück für Genesung“, sagt Margherita, als ich zwanzig Minuten später meine Jacke anziehe und meine Hand schon auf die Klinke der Haustür lege.
„Dankeschön.“ Ich hauche es nur.
Dann umarmt mich Margherita; sie muss sich dazu auf die Zehenspitzen stellen, was mich zum Kichern verleiteten würde, wenn ich es noch könnte. Doch meine Mundmuskulatur scheint sich mit einem Mal zurückgebildet zu haben, denn sie ist so schlaff, dass ich noch nicht einmal das kleinste, vagste Lächeln hinbekomme.
„Auf Wiedersehen“, sagt Vincenzo in einer halben, angedeuteten Verbeugung und ich merke jetzt, da er neben seiner Frau steht, erst richtig, wie mager und vertrocknet er aussieht.
„Tschüss!“, rufen die Kinder, die sich in den Türrahmen zwischen Wohnzimmer und Flur gedrängt haben und winken mir zu. Allen voran steht Elena, die zwar schweigt, aber mir intensiver als alle anderen zusammen auf ihre ganz spezielle Weise auf Wiedersehen sagt.

~6~

Tag 6: Samstag

Es ist fast so, als hätte ich eigenhändig mein Todesurteil unterschrieben, in dem Moment, als ich über die Schwelle dieses Zimmers getreten bin.
Der Raum ist groß und hell mit einem quadratischen Fenster, durch das zwar Licht, aber keine Sonne einfällt. Er ist nur deshalb so hell, da seine Wände, sein Boden und seine Möbel weiß gestrichen sind.
Neben diesen Sachen sieht der Schnee ganz gewiss grau aus, schießt es mir durch den Kopf, als eine kleine, hübsche Krankenschwester mir dabei behilflich ist, mein Gepäck in den Kleiderschrank zu verfrachten.
„So, nun legen Sie sich am besten ein paar Stündchen hin, nicht?“ Ihr knallrot geschminkter Mund hat die Form einer Banane, obwohl sie nicht lächelt.
Ich murre zustimmend, da solch eine blöde Bemerkung keinen weiteren Kommentar erfordert. Die halten mich doch jetzt schon für tot… Ich sehe der kleinen, schwarzhaarigen Schwester mit dem roten Bananenmund dabei zu, wie sie das Zimmer verlässt und stelle mich dann ans Fenster, um hinauszuschauen. Ich habe einen herrlichen Blick auf eine der belebtesten Straßen der Stadt: Dort unten ist immer etwas los.
Es wird nie langweilig sein, niederzublicken und dem bunten Treiben mit den Augen zu folgen.
Dort unten tobt das Leben, während ich hier oben eingesperrt bin und nicht daran teilhaben kann… nie mehr können werde…
Ruckartig, sodass ich selbst vor meiner plötzlichen Bewegung erschrecke, wende ich mich ab und gehe nun doch zum Bett.
Ich bin diesen Leuten ausgeliefert… es ist beinahe unheimlich, da sie genau wissen, was ich tun werde… die Bananenschwester sagt „Legen Sie sich ein paar Stündchen hin“ und ich gehe zum Bett… der Krankenpfleger sagt „Gleich gibt es ein leckeres Abendessen für Sie“ und ich esse… der Arzt sagt „Die Chancen stehen, wie ich es Ihnen bedauerlicher Weise sagen muss, nicht sehr gut“, und ich – sterbe.
Die Gefangenschaft bekommt mir nicht, denke ich trüb, ich hege nur verrückte Gedanken.
Das Bett ist hart und steif, selbst die Bettdecke und das Kissen scheinen mit Ziegeln gefüllt zu sein. Gerade will ich mich hinlegen und die verdammte Decke über mir anschauen, die auch weiß ist, so wie alles andere hier, und mir keine Flucht vor dieser grellen, glühenden Farbe bietet, da klopft es an der Tür, die gleich darauf einen Spalt breit geöffnet wird.
Zwei große, blaue Augen mit einem traurigen Ausdruck huschen durch das Zimmer, bis sie mich erfassen und entblößen, zu welchem Gesicht sie gehören.
„Vivian!“, rufe ich überrascht und warte, bis das Mädchen eingetreten ist – dann erst merke ich, dass sie nicht allein ist. Eine weitere, größere und etwas dunklere Gestalt ist ihr unmittelbar gefolgt; sie hat lange, steife Haare und wunderbare Augen, die ich bisher nur bei einem Menschen gesehen habe. „Und Elena!“
„Hallo“, sagen die beiden Kinder und treten an mein Bett. Sie beide halten einen kleinen Strauß bunter Blumen in der Hand, den sie aller Wahrscheinlichkeit nach selbst gepflückt haben.
„Ich dachte, du wärst noch böse auf mich“, sage ich an Vivian gewandt und kann meine Erleichterung nicht verbergen.
„Du kannst doch nichts dafür, dass du krank bist“, sagt das Mädchen prompt, legt seinen und Elenas Blumenstrauß auf mein Nachtschränkchen und strahlt mir entgegen.
„Und ähm – wie habt ihr euch kennen gelernt?“, will ich neugierig wissen.
Es ist köstlich, den beiden frisch gewordenen Freundinnen dabei zuzusehen, wie sie mir ihr Kennenlernen schildern und dabei immer wieder ohne Grund anfangen ausgelassen zu kichern. Ich kann mich nicht erinnern, Vivian jemals so lebhaft gesehen zu haben, außer als ich ihr versprochen habe, mit ihr nach Amerika zu fliegen… schnell verscheuche ich diesen hartnäckigen Gedanken aus meinem Kopf, der sich mit Widerhaken dort eingenistet hat, und schenke meine Aufmerksamkeit wieder Elena, die gerade erzählt, am Nachmittag zu Vivians Haus gegangen zu sein, um sie dort lesend anzutreffen. Und so habe dann ein Gespräch begonnen; die zwei hätten auch über mich gesprochen und beschlossen, mich besuchen zu kommen.
„Wie seid ihr denn hergekommen? Mit dem Bus?“, frage ich, als die Geschichte vorbei ist.
„Nein, meine Mama hat mich gefahren“, erklärt Vivian und unterdrückt ein Lachen, „sie war so froh, dass sie mich mit einer Freundin irgendwo hin bringen kann… wir haben ihr erzählt, einen Klassenkamerad von uns besuchen zu wollen, der sich ein Bein gebrochen hat.“ Dann fügt sie noch hinzu: „Sie weiß schließlich nicht, dass wir gar nicht auf dieselbe Schule gehen.“
„Das habt ihr toll gemacht“, lobe ich mit höchster Anerkennung. Als eine Weile lang Stille einkehrt, scheint Vivian das Thema in den Sinn zurückzukehren, das ich eigentlich so gern vermeiden würde…
„Wann kommst du denn aus dem Krankenhaus? Wir müssen unsere Reise unbedingt dann machen.“ Und mit einem Seitenblick auf Elena sagt sie: „Ich hab ihr schon von Amerika erzählt. Es ist das Geheimnis von uns dreien.“
Elena nickt zustimmend und sieht sich in dem Zimmer um, obwohl es hier rein gar nichts Spannendes oder Interessantes zu sehen gibt.
„Tja, das weiß ich leider nicht, Vivi“, antworte ich stockend.
„Wir können ja auch zu meinem nächsten Geburtstag hinfahren. Das wäre noch besser, denn dann würde mein Wunsch ganz in Erfüllung gehen. Nicht nur einen normalen Tag mit mehr als 24 Stunden erleben, sondern einen Geburtstag, der länger als ein Tag dauert!“ Sie beginnt zu lachen und merkt in ihrer Freude nicht, dass ich nicht mitlache.
Ich sitze noch immer verkrampft auf dem harten Bett und suche verzweifelt nach einer Frage, mit der ich geschickt das Thema wechseln könnte…
Bevor ich jedoch eine geeignete finde, redet Vivian weiter. „Hast du viel Besuch? Kommen deine Eltern dich auch besuchen?“
„Oh, nein, meine Eltern nicht“, sage ich und schäme mich aus irgendeinem Grund fürchterlich, da ich auf solch eine Frage überhaupt nicht gefasst war.
„Warum denn nicht?“, will Vivian bestürzt wissen; auf ihrem Gesicht ist eine leidvolle Miene erschienen, so als würde all das, was ich sage, sie selbst betreffen.
„Sie leben nicht mehr, das alles ist schon ziemlich lange her“, erkläre ich hastig und verstärke damit nur noch den Ausdruck in Vivians Mimik.
„Sie sind tot?“, fragt sie erstickt und fasst sich an die Kehle, so als hätte ihr jemand einen dicken, festen Strang um den Hals gelegt, der ihr die Luft abschnürt.
„Ja, wie gesagt, es ist lange her.“ Beinahe hätte ich noch dazugesagt: Und ich werde sie ja sowieso bald wieder sehen, doch ich kann mich gerade noch beherrschen. Stattdessen greife ich die erste vernünftige Frage auf, die einen Wechsel des Themas herbeiführen kann, und bringe etwas stotternd hervor: „Hat Elena dir schon erzählt, dass ihre Mama in die Schule gegangen ist, um mit einem Lehrer zu sprechen?“
„Ja, aber es hat bei mir gar nichts genützt“, antwortet Elena unerwarteter Weise und starrt mir direkt in die Augen. „Es ist egal, ob der Lehrer es weiß oder nicht, er ändert auch nichts.“
„Was?“ Ich schaue von der einen zur anderen. „Aber wurden nicht die Eltern dieser Jungs benachrichtigt oder so?“
„Doch, schon“, erklärt Elena nickend, „aber das hat auch nicht geholfen.“
„Ich stehe das schon durch“, bekräftigt Vivian mit fester Stimme die Aussage ihrer Freundin und hat eine sehr aufrechte Haltung angenommen. Ich mustere das kleine, dünne Mädchen, das nach außen hin vielleicht schwach aussehen mag, innerlich aber eine der stärksten Personen ist, die ich kenne.
„Vivian?“, sage ich dann gedankenverloren und schaue meiner kleinen Freundin immer noch ins Gesicht, jedoch ohne sie wirklich zu sehen, „erinnerst du dich noch daran, als du zu mir gesagt hast, dass lesen das einzige ist, was du kannst?“
Vivian nickt eifrig. „Natürlich.“ Ihre Stimme ist zwar noch immer klar und deutlich, hat aber einen leicht besorgten Unterton bekommen. Vielleicht spürt sie bereits, dass dies hier eigentlich ein Abschied ist…
„Dass es nicht stimmt, wusste ich schon damals. Aber jetzt kann ich es auch begründen.“ Meine Stimme beginnt leicht zu zittern, als ich nach einer kurzen Pause weiterrede. „Denn du bist einfach einmalig darin, zu leben.“
Vivian und Elena betrachten mich schweigend und auch wenn die beiden Zwölfjährigen mich jetzt noch nicht genau verstanden haben, so bin ich mir ganz sicher, dass sie es eines Tages begreifen werden…
Um die Kinder nicht länger ansehen zu müssen und den Schmerz somit noch größer zu machen, wandert mein Blick zum Fenster. Der Himmel ist inzwischen sehr dunkel gefärbt und unten in den Häusern brennen tausende, kleine Lichter, die wie Augen zu mir heraufblinzeln und mich zu rufen scheinen.
„Meint ihr, ihr könnt mich hier rausbringen?“, sage ich plötzlich mit einem Anflug von Aufregung in der Stimme. Elena und Vivian erschrecken sich so sehr über meinen unmittelbaren Aufruf, dass sie gleichzeitig zusammenfahren. „Ich habe ein Fenster zur Nordseite, ich kann den Sonnenuntergang nicht sehen!“, rufe ich noch aufgebrachter und steige aus dem Bett.
Die Abenteuerlust, die mich bei meinem „Fluchtversuch“ ergriffen hat, ist leider sehr schnell wieder verebbt, da ich mit meinen beiden Komplizen noch vor den Aufzügen von der bananenmündigen Schwester abgefangen worden bin. Sie hat es mir unter lautem Seufzen erlaubt, zu einem Fenster an der Westseite zu gehen, als ich ihr mein Anliegen hartnäckig erklärt habe.
Das Fenster ist klein und schmal und so hoch oben angebracht, dass Elena hindurchsehen kann, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellt, Vivian allerdings nicht die geringste Chance hat, einen Blick nach draußen zu werfen.
„Habt ihr den Mund von dieser Krankenschwester gesehen?“, flüstere ich den beiden kichernd zu.
„Ja!“, ruft Elena und ihr Wort hallt an den kahlen Wänden wider, „der sah aus wie eine Banane!“
Wir alle drei lachen herzlich, aber nur mir steigen dabei Tränen in die Augen, die nicht aufs Lachen zurückzuführen sind… schnell sehe ich hinaus in den abendroten Himmel und sehe die Sonne als riesigen, blutroten Feuerball tief über dem Horizont stehen. Sie könnte eine Wunde sein, aus der langsam Blut heraussickert, das sich mit dem Weiß der Wolken in unmittelbarer Umgebung vermischt und diese orange färbt… vielleicht ist das aber auch das Werk des Künstlers, überlege ich und will mir nicht ganz so makabre Gedanken machen, vielleicht hat der Künstler diesen dicken roten Punkt gemalt und danach rot mit orange und vielen anderen Farben gemischt, um Wolken in dieser hellen, beinahe pink leuchtenden Farbe zu gestalten.
„Ich mag Sonnenaufgänge lieber“, murmle ich geistesabwesend, „mit ihnen wird immer irgendetwas Neues, Einzigartiges geboren. Sonnenuntergänge sterben nur. Nach ihnen ist alles dunkel.“

~7~

Tag 7: Sonntag

Margherita besucht mich am zweiten Tag meines Krankenhausaufenthaltes ohne ihre leeren oder gefüllten Einkaufstaschen. Mir fällt erst nach einigen Sekunden ein, dass heute ja auch Sonntag ist und alle Läden geschlossen haben.
Die mollige Frau lächelt breit beim Eintreten, erklärt mir schnaufend, die Treppen bis hier hoch in den sechsten Stock genommen zu haben, da sie etwas abspecken wolle, und lässt sich dann auf den klapperigen Stuhl neben meinem Bett fallen.
„Ich habe dir etwas mitgebracht“, teilt sie mir lachend mit, „das ist selbstgemacht.“ Sie reicht mir ein viereckiges, lose in Servietten eingewickeltes Päckchen, das anscheinend etwas Essbares beinhaltet. Das Etwas ist flach und braun, riecht nach Zimt und einem Gewürz, das ich nicht kenne, und ist so hart, dass man jemanden damit totschlagen könnte.
„Was ist das?“, frage ich und rieche an meinem Mitbringsel.
„Probier mal. Es ist Familienrezept.“
Ich beiße in das merkwürdige Gebäck und bin angenehm überrascht: Es ist nicht annähernd so hart wie es sich zuerst angefühlt hat und schmeckt sehr zart und aromatisch.
„Warum bist du hier in Krankenhaus? Bist du sehr krank?“
Mir bleibt der Bissen im Halse stecken, als Margherita das Thema anspricht, das ich eigentlich geschickt umgehen wollte. Ich lege das Gebäck beiseite, halte kurz die Luft an und blicke in die dunklen, runden Augen der Frau.
„Ja, ich bin krank. Und ich…“ Ich kann es nicht sagen; ich bringe es einfach nicht übers Herz, meine Freundin so sehr zu schocken. Doch da ich es als unfair erachte, sie jetzt belügen zu müssen, wo sie mich so direkt darauf anspricht, nehme ich schließlich all meinen Mut zusammen und sage leise: „Ich muss sterben, Margherita.“
„Ich verstehe nicht-“, sagt sie merkwürdig hölzern und schüttelt den Kopf.
Ich fahre nur schweigend fort, sie anzusehen.
Ich weiß, dass sie mich sehr wohl verstanden hat.
Sie hätte es bloß gern nicht verstanden…
„Ich weiß nicht, wie lange ich noch zu leben habe, aber ich weiß, dass es langsam zu Ende geht…“, fahre ich langsam fort.
Margherita schüttelt wieder den Kopf, diesmal heftiger, fast als wolle sie die Worte abwehren, die ihr knallhart gegen die Stirn schlagen. „Aber du bist so jung!“ Ihre Augen treten fassungslos hervor und scheinen zu schreien: Sag, dass es nicht stimmt, sag, dass es nicht stimmt!
„Ich bin noch sehr jung, das stimmt“, sage ich leise und schlucke endlich den Bissen Gebäck runter, der mir noch immer im Hals steckt – keine leichte Aufgabe, wie ich gleich merke, der Brocken scheint nämlich in der Zwischenzeit aufs Doppelte angewachsen zu sein.
„Und trotzdem… trotzdem fühle ich mich, als hätte ich mein Leben bereits hinter mir. Es kann nicht ewig so weitergehen. Es ist eine Frage der Zeit, das war es schon immer.“ Ich knete meine Bettdecke, um nicht die Beherrschung zu verlieren und in Tränen auszubrechen. „Es kommt nicht immer nur auf das Alter an, verstehst du?“ Ich schaue ganz kurz hoch zu Margherita, die zurückschaut wie vom Donner gerührt. „Es kommt darauf an, wie sehr einen das Leben bereits verbraucht hat, egal wie lange es gedauert hat…“ Ein Schmerz durchzuckt meine Augen und hinterlässt ein unangenehmes Brennen. Ich darf jetzt nicht ausrasten, schon Margherita wegen – sie wäre völlig aufgelöst, wenn sie mich verzweifelt auf der Schippe des Todes sitzen und weinen sehen würde… Sie würde nicht verstehen, dass ich nicht wegen meinem eigenen Tod, der so unmittelbar bevorsteht wie nie zuvor, so traurig bin… sie würde nicht verstehen, dass nicht die Tatsache, bald sterben zu müssen, mich an den Rande des Wahnsinns treibt… ich würde ihr nicht erklären können, dass mein Tod im Grunde nur die Erlösung eines langen, weiten Leidensweges wäre, der am Tage meiner Geburt begonnen hat und am Tage meines Todes endlich enden wird… ich wäre auch nicht imstande, ihr zu sagen, dass für mich die Tatsache, sie und alle Menschen, die mir etwas bedeuten, allein zurückzulassen, das Schlimmste ist… dass ich keine Angst vor dem Sterben selbst habe sondern nur vor dem Weg dorthin… Angst davor, meinen Freunden ein letztes Mal ins Gesicht zu lächeln, ihnen ein letztes Mal die Hand zu drücken, ihnen ein letztes Mal zu sagen, wie gern ich sie habe…
Ich greife schnell nach Margheritas Hand, als ich sehe, dass sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten kann. Sie schluchzt nur drei oder vier Mal, vergießt zwei dicke Tränen aus beiden Augen und fasst sich anschließend wieder, um meine Hand sehr fest zu drücken. „Wir kennen uns kurz, aber du hast so viel getan für Familie… für Lucia… und Elena, sie hat endlich Freundin gefunden!“ Sie lacht schrill, warum, das weiß sie wahrscheinlich selbst kaum.
„Ich habe Lucia nicht geholfen und auch Elena nicht. Das haben sie ganz allein getan.“
Margherita scheint mich nicht gehört zu haben, denn sie schüttelt die ganze Zeit über nur den Kopf. „Wie soll ich helfen?“
„Du brauchst mir nicht zu helfen. Du kannst mir nicht helfen.“ Ich lächle sie warm an. „Geh nach Hause zu deinen Kindern. Die Bande braucht dich dringender als ich.“
Wie gern würde ich aufstehen und mit ihr gehen… wie gern würde ich mit ihr gemeinsam zu ihren sieben Kindern und ihrem Enkel gehen und lachen und spielen und lachen und spielen, bis die Sonne dem Mond weicht und die Sterne hell am Himmel funkeln…
Für heute bleibt mir von Margherita nur das flache, braune Gebäck, das ich in die Hand nehme und betrachte, als sie gegangen ist und die Tür schwermütig hinter sich geschlossen hat.
Und während ich den merkwürdigen Kuchen aus Familienrezept so von allen Seiten anschaue, brechen die Tränen aus mir heraus wie das Wasser aus einem Leck im Staudamm…

*

Zum Glück sind meine Tränen bereits getrocknet, als Reiner bei mir vorbeischaut. Er nuschelt etwas von wegen, er wolle einen Arbeitskollegen besuchen und ihm sei dabei zufällig eingefallen, dass ich auch hier läge; aber im Grunde ist es auch völlig egal, was er sagt, allein dass er hergekommen ist und sich fünf Minuten Zeit nimmt, ist für mich eine große Freude.
„Ich hab seit heute Morgen um fünf Zeitungen ausgetragen“, berichtet er erschöpft und setzt sich auf den Stuhl neben meinem Bett. „Und wegen dem Geld, ich könnte es-“
„Reiner!“, rufe ich, nicht böse, sondern eher genervt.
Er sieht nicht zu mir auf. „Du brauchst das Geld doch erst recht, wenn du schwer krank bist und länger hier bleiben musst…“
„Ich glaube nicht, dass ich länger hier bleiben muss“, sage ich sanftmütig, „sieh einfach zu, dass du deine anderen Schulden los wirst…“
„Ja, das werde ich“, antwortet Reiner laut, so als würde er sich dessen mir gegenüber verpflichtet fühlen.
„Übrigens“, sage ich nach einer Weile lächelnd, „ich hab immer gedacht, dass du jemand wärst, der im Büro arbeitet und am PC sitzt. Ich finde die Arbeiten, die du in Wirklichkeit verrichtest, sehr würdevoll.“
„Danke“, nuschelt er, ebenfalls lächelnd, „ich habe auch mal im Büro gearbeitet.“
„Wirklich?“ Und ich bin froh, dass ich mich doch auf meine Intuition verlassen konnte.
„Ja, ich war sogar in einer sehr hohen Position… und dann…“ Er zuckt die Achseln und sieht aus dem rektangulären Fenster. „Das, was ich jetzt mache, ist nicht so angenehm und ich schäme mich dafür, einen Job wie Putzen gehen oder Kellnern früher immer zu wenig geschätzt zu haben.“
„An so etwas wächst man“, sage ich, ohne belehrend klingen zu wollen, „manchen bleibt so eine Erfahrung zum Glück erspart, aber es hat auch etwas für sich, sie einmal gemacht zu haben.“
„Ja.“
Und wir verfallen in ein tiefes Schweigen, da für unser inneres, gemeinsames Einverständnis keine Worte mehr erforderlich sind. Wir sehen uns nur an und wissen, dass alles gut ist, so, wie es ist.

~8~

Tag 8: Montag

Am Abend dieses Montagmorgens rufe ich vom Telefon neben meinem Bett aus meine Freunde an: Reiner, Margherita und Vivian.
Es grenzt fast ein an Wunder, sie alle zu Hause anzutreffen, und noch verwunderlicher ist es, dass sie alle Zeit haben.
Reiner ist als erster da. Er bleibt vom Schreck ergriffen im Türrahmen stehen, als sein Blick auf mich fällt, wie ich als kleines Häufchen Elend im Bett liege und nur mit Mühe die Augen aufbehalten kann. Mein Zustand hat sich seit dem Sonntagnachmittag seines letzten Besuches rapide verschlechtert.
„Ist schon gut“, wispere ich, „so schlimm, wie es aussieht, ist es nicht.“
Und das Leben kehrt in seine Glieder zurück.
Kaum ist Reiner eine Minute bei mir, öffnet sich die Tür und Margherita und Vivian treten ein. Die Besorgnis spiegelt sich in den Blicken der beiden deutlich wider, aber sie beide sagen keinen Ton. Nachdem sie mich einen Moment lang aus großen Augen angesehen haben, fallen ihre Blicke auf Reiner, den sie vielleicht von der Haltestelle wieder erkennen, vielleicht tun sie das aber auch nicht… ich weiß es nicht, aber ich sehe, dass sie sich wort- und widerstandslos zu einer dreigliedrigen, festen Einheit zusammenschließen, um an mein Bett zu treten und freundlich zu mir herabzulächeln.
Wie konnten mir diese Menschen jemals fremd sein, schießt es mir urplötzlich durch den Kopf, wie kommt es, dass sie für mich immer nur das kleine Mädchen, der Mann mit der grünen Jacke und die Frau mit den leeren Einkaufstaschen von der Bushaltestelle gewesen waren?
„Wie – wie geht’s dir denn?“, fragt Vivian und sieht mich ängstlich an. Sie ist so klein, dass sie kaum hinunterzuschauen braucht, um mit mir auf einer Augenhöhe zu sein.
„Bestens“, erwidere ich und versuche, aufbauend zu lächeln, doch dafür reicht meine Kraft nicht aus. Ich bin dankbar, wenigstens noch reden zu können, deshalb verwahre ich alle mir verbleibende Energie dafür.
Vivians Augen haben heute einen merkwürdig silbrigen Glanz, der mir Angst macht. Ich will fragen: Was ist mit dir los?, doch Reiner kommt mir zuvor: „Gibt es irgendetwas, das wir für dich tun können?“ Er tritt ein Stückchen näher und ergreift meine Hand. Ich merke erst, wie kalt meine eigene ist, als seine warme, starke Hand die meine berührt.
„Ihr seid da, das habt ihr für mich getan.“ Ich wundere mich, wieso sie alle mit mir sprechen wie mit einem Sterbenden.
Mir geht es doch viel besser, seit sie da sind!
Heute wird es nicht passieren!
Ich schaue in die kleine Runde von drei Leuten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und spüre den Drang zu weinen. Es ist wunderschön, sie alle dort stehen zu sehen wie die Fackeln im Sturm, die nicht von meiner Seite weichen bis zu ihrem Erlöschen.
Doch Körperflüssigkeiten sind im Moment zu kostbar für mich; ich kann es mir nicht leisten, Wasser zu vergießen. Deshalb schaue ich meine drei Kämpfer einfach nur an und ziehe Kraft aus Reiners Hand, die meine nicht loslässt.
„Wieso haben wir nicht schon viel früher kennen gelernt?“, flüstert Margherita und wischt sich mit einem Taschentuch über die dunklen, schattigen Augen, die heute müde und träge aussehen.
„Das haben wir doch“, antworte ich schwach, „wir standen jahrelang an derselben Haltestelle. Jeden Tag. Tun wir doch einfach so, als wären wir vom allerersten Tag an Freunde gewesen wie wir es jetzt sind.“ Ich muss meine Augen schließen, die inzwischen eine Tonne zu wiegen scheinen. Als ich ein leises Seufzen höre, öffne ich sie wieder zu zwei schmalen Schlitzen, um über Vivians kleines Gesichtchen dicke, runde Tränen rollen zu sehen. Sie versucht krampfhaft, ihr Weinen zu unterdrücken; ich sehe das, ich kenne das, denn ich habe es als Kind genauso gemacht.
Wer weint, ist schwach.
Wie gern würde ich Vivian in diesem Moment sagen, dass sie nicht schwach ist; dass sie sich ihrer Tränen nicht zu schämen braucht und dass sie bloß nicht versuchen soll, den Drang zu unterdrücken, da dadurch alles nur noch schlimmer wird…. Doch ich kann nicht, die Worte wollen nicht aus meinem Mund heraus, bleiben in meinem Halse stecken, für immer und ewig, um niemals das Tageslicht zu erblicken…
„Soll ich… soll ich dir etwas aus dem kleinen Prinzen vorlesen?“, krächzt sie und lässt das Buch unter ihrer Jacke auftauchen.
Ich lächle vage, schließe meine Augen erneut und kann kurze Zeit später Vivians piepsende Stimme vernehmen, die mir etwas aus dem kleinen Prinzen vorliest; ihre Worte werden nur manchmal durch leise, unregelmäßige Schluchzer unterbrochen. „’Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben, die lachen können! Und wenn du dich getröstet hast, wirst du froh sein, mich gekannt zu haben. Du wirst immer mein Freund sein. Du wirst Lust haben, mit mir zu lachen…’“
Ich merke nicht, dass Vivians Stimme gleichmäßig verebbt; irgendwann ist sie einfach nicht mehr da. Ihre Worte sind einer weichen, warmen Stille gewichen, die mich umgibt.
Ich merke auch nicht, dass ich in gar keinen normalen Schlaf abgedriftet bin, sondern in einen Zustand, der um so vieles ruhiger, intensiver und friedlicher als das Schlafen ist…
Und ich merke nicht einmal, dass mein Herz aufhört zu schlagen; dass das Blut in seinem unendlichen Kreislauf durch meinen Körper unterbrochen wird und plötzlich still steht; dass mein Gehirn seine Arbeit niederlegt wie ein Arbeiter nach einem harten Arbeitstag sein Werkzeug weglegt und schnauft: „Endlich Feierabend!“.
Es scheint fast zu sagen: „Das war ein wirklich langer Tag. Jetzt ruhe ich mich endlich aus…“

Ich weiß, dass mich meine drei Freunde niemals verlassen werden – sie stehen noch lange neben meinem Bett im Krankenhaus und betrachten mit glasigen Blicken meinen leblosen Körper.
Vivian weint nicht mehr.
Komisch, dass man immer vor einem Abschied weint und kaum noch hinterher.
Hinterher, wenn alles vorbei ist, ist man irgendwie stärker.
Und Vivian ist stark.
Ich sehe ein letztes Mal in ihr zartes, unschuldiges Kindergesicht, das aus Reiners und Margheritas Mitte hell herausstrahlt, um mich dann dem zu öffnen, was mich jetzt erwartet.
Ich weiß, dass ich sie alle wieder sehen werde.
Und wenn ich sie irgendwann, an einem ganz anderen Ort, zu einer ganz anderen Zeit, an irgendeiner ganz anderen Haltestelle wiedertreffen sollte, dann sind sie mir nicht mehr fremd.
Allein dieser Gedanke macht mich froh.

Copyright: Meike Mittmeyer-Riehl, 2004
Keine Weitergabe oder Vervielfältigung ohne ausdrückliches Einverständnis der Autorin!

Beitragsfoto: Thanks for your Like • donations welcome auf Pixabay

Veröffentlicht von Meike Mittmeyer-Riehl

Mein Name ist Meike, ich bin Anfang 30 und komme aus Südhessen. Ich bin Journalistin und arbeite derzeit halbtags als Pressesprecherin einer Kommune und nebenher freiberuflich für die Zeitungen im VRM-Verlag. Ich liebe es, durch die Welt zu reisen, Neues zu entdecken, in Pfützen zu springen, stundenlang in die Sterne zu schauen, bei Rockkonzerten laut mitzusingen und meine Katze zu streicheln.

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