Immer wieder rührte Klair ihren Kaffee um, schüttete kleine Schlückchen Milch nach, kratzte winzige Restchen Zucker vom Rand. Wirbelnd verloren sich die weißen Milchschlieren im bräunlich-bitteren Gebräu, waren bald hellbraun, bald schlammfarben und hoben sich endlich gar nicht mehr von der dunklen Flüssigkeit ab, die nun um Nuancen heller geworden war, aber nur leicht, denn Klair nahm nie viel Milch in ihren Kaffee. Ihre Kleider waren noch ein wenig nass vom Regen draußen, doch die Luft in der Kneipe war warm und trocken; warm durch die vielen menschlichen Körper, die hier dicht an dicht saßen wie Dominosteine, Bier tranken, Kartoffelauflauf aßen oder Karten spielten, und trocken durch den beißenden Zigarettenqualm, der gemeinsam mit der Heizungsluft eine beinahe greifbare, feste Masse von Luft erzeugte, in die Klair einbetoniert war. Die saß dort ganz allein mit ihrer Kaffeetasse am Tisch, rührte mit dem Silberlöffel im Getränk und schaute hin und wieder an der langen Tafel herab, ob sich nicht vielleicht doch jemand ganz lautlos neben sie gesetzt hatte. Halb acht war durch, bald würden die ersten Kameraden hereintröpfeln. Die Pünktlichsten waren sie noch nie gewesen. Keiner von ihnen.
Genre: Gesellschaftskritik
Verfasst: ca. 2005
„Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“, fragte die Kellnerin, ein großes, plumpes Weibsbild von vielleicht fünfzig Jahren, grell geschminkt, sehr faltig und mit kleinen, bitteren Augen, die schon viel gesehen haben mussten.
„Nein, nein“, antwortete Klair ganz mechanisch, deutete auf ihren Kaffee und rührte wieder. Jetzt endlich öffnete sich die Kneipentür, um einen Schwall frischer, kühler, feuchter Abendluft hereinzulassen, welcher der Wartenden angenehm das Gesicht erfrischte. Wenig später zeichnete sich vor der Dunkelheit des Nachthimmels, den die geöffnete Türe für eine kurze Zeitspanne entblößte, ein Körper ab; beinahe gespenstisch düster in einen großen, schwarzen Mantel gehüllt und von oben bis unten vor Nässe triefend. Erst als die Gestalt sich die Kapuze vom Kopfe riss, wirkte sie nicht mehr gruselig, sondern wieder äußerst menschlich. Ein runder Schädel war zum Vorschein gekommen, bewuchert von krausem, blondem Haar und einem dunkelbraunen Vollbart, mit sehr tief liegenden, hellblauen Augen, die immer eine Wasseroberfläche zu reflektieren schienen. Diese Augen schauten sich nun etwas verwirrt um, verrieten Ratlosigkeit und Verblüfftheit über die Abwesenheit der anderen Kameraden und fassten schließlich Klair in den Blick, die als einzige am Tisch saß und im Kaffee herumrührte.
„Hallo Klair!“, sagte die Gestalt, legte den Mantel ab und setzte sich neben die alte Schulkollegin, doch der verblüffte Ausdruck war noch nicht von den blauen Augen abgefallen.
„Hallo Gerald“, gab Klair zurück, etwas träumerisch versunken in die kreisenden Bewegungen des Getränkes und ohne zum Schulkollegen aufzublicken, ja, ohne ihn wirklich zu bemerken. Gerald Harrer: der stille, schüchterne, zurückgezogene Gerald, immer ein unauffälliger aber fleißiger Schüler, nicht sehr beliebt bei den Klassenkameraden aber auch nicht unwillkommen in ihrer Gemeinschaft; ein unscheinbarer, unbemerkter Schatten, der still an einer Wand schwebt und keinen stört, aber auch niemanden glücklicher macht.
„Und?“, fragte er unsicher, da er nicht bewerten konnte, ob Klair ihm zuhörte oder tagträumte, „was hast du gemacht … nach der Schule?“
Klair blickte auf, die Augen gläsern und nass, so wie sie schon immer gewesen waren, schon damals in der gemeinsamen Schulzeit. Gerald hatte diesen Blick immer verabscheut.
„Ich-“ Doch in dem Moment erreichte ein erneuter, feuchter Windstoß Klairs Gesicht und ließ sie zur Tür schauen. Auch Gerald lenkte seine Aufmerksamkeit in diese Richtung, stark hoffend, dass endlich einer der alten Freunde käme. Und sein Hoffen wurde nicht enttäuscht.
Franziska von Risbach und Anita Wimpler hatten die Kneipe betreten, sahen sich kurz um und erblickten schließlich Klair und Gerald am reservierten Tisch, um sogleich lächelnd zu ihnen zu stoßen. Franziska und Anita, schon immer unzertrennlich, beide stets darauf bedacht, gut auszusehen und Selbstbewusstsein auszustrahlen, sehr beliebt bei den Lehrern, zwei der besten im Abitur.
„Hey! Sieh mal einer an, Gerald und Klair! Ist das denn zu fassen? Ist das wirklich schon elf Jahre her?“ Und sie setzten sich strahlend zu den beiden Gleichaltrigen, bestellten Getränke, plauderten ein paar Worte und schauten neugierig auf, als sich wiederum die Tür öffnete.
Mit der Zeit füllte sich der für das Klassentreffen reservierte Tisch mit Menschen und bald hatte sich die gesamte Abschlussklasse des Jahres X versammelt; alle waren anwesend, alle bis auf Manfred, denn den hatte es vor ein paar Jahren bei einem Autounfall erwischt. Man hatte davon gehört und jeder für sich dem verstorbenen Kameraden gedacht, sodass nun nicht mehr darüber gesprochen werden musste.
Da saßen sie also alle munter beisammen, die Philosophen, die Mediziner, die Mathematiker, die Psychologen; sie alle saßen da und sprachen über die gute alte Zeit, selbst Herr Ackermann selbst, der Ex-Klassenlehrer: Ein kleiner, dürrer Mensch, für seine zweiundsiebzig Jahre noch erstaunlich gut erhalten und während der vergangenen elf Jahre scheinbar kaum gealtert – so saß er da, inmitten seiner ehemaligen Klasse, seiner ehemaligen Lieblingsschüler, seiner Versager. Bloß Klair hockte wortkarg dazwischen, rührte ihren längst kalten Kaffee um und hörte den Erfolgsgeschichten der alten Kameraden stumm zu. Gerald war doch tatsächlich ein Philosoph geworden, das einzige, was für ihn jemals in Betracht gekommen war. Der stille, scheue Mitschüler, der unscheinbare Schatten, hatte Bücher veröffentlicht und kritische Artikel verfasst, hatte beinahe Weltruhm erlangt und Auszeichnungen erhalten. Franziska und Anita – während des Studiums natürlich genauso unzertrennlich wie zu Schulzeiten – waren Psychologen und führten ihre eigene Praxis in der Innenstadt. Klair schnaubte spöttisch aber bitter, als sie diese Neuigkeit hörte, denn es erschien ihr auf eine sehr morbide Art und Weise witzig, dass jene, die damals für ihr Seelenleiden verantwortlich gewesen waren, nun angeblich solchen Menschen helfen wollten, die an einer Seelenkrankheit litten. Gab das überhaupt irgendeinen Sinn?
Irgendwann stand Klair unvermittelt auf und blieb für einige Augenblicke so stehen, als wollte sie eine Tischrede halten. Tatsächlich richteten sich die Blicke einiger Mitschüler überrascht auf sie; manche schienen gar jetzt erst zu bemerken, dass sie anwesend war. Klair. Klair, die Verrückte, die Doofe, die Träumerin. Herr Ackermann hatte sie immer für ein äußerst faules, unbegabtes Kind gehalten. Auch jetzt schien sich sein seit damals erhalten gebliebener Eindruck zu bestätigen, als er dieses talentlose, hässliche Geschöpf dastehen sah, mit den wässrigen, klaren Augen und dem stummen Mund, der an einen Fisch erinnerte. Rasch entfernte sich Klair vom Tisch und kämpfte sich durch die dicke, trockene Luft, die ihr nun tatsächlich hart wie Beton erschien, zu den Toiletten vor. Bis hier hin schien sie die Kameraden reden zu hören: „Ich habe Jura studiert und bin Richter geworden. Nach meinem dreijährigen Auslandsaufenthalt habe ich eine Stelle als Vorstandsmitglied bekommen. Ich bin vorgestern wegen außerordentlicher Leistungen zur Klinikchefin befördert worden…“
Klair schaute in den Spiegel und sah diesen wässrigen Blick, den niemand mochte. Warum wusste denn niemand von ihnen – kein Arzt, kein Physiker, kein Philosoph, kein Lehrer – wieso diese Augen in Wasser schwammen? Wieso hatte niemand jemals die Schnitte auf den Armen gesehen? Und die Schnitte im Gesicht? Wieso konnte ihr der Philosoph nicht den Sinn ihres Daseins erklären? Wieso der Mathematiker nicht die Wahrscheinlichkeit auf ein besseres Leben ausrechnen? Wieso die Psychologen nicht das Leid nehmen, das sie damals verursacht hatten? Klair sah sich schon vor ihrem inneren Auge an der Tafelrunde stehen und ihnen all diese Fragen wie Bleikugeln an die gebildeten, intelligenten Köpfe werfen, auf dass es nur so schepperte. Sie sah Herrn Ackermann die Worte formen: „Ich wusste schon immer, dass aus diesem Kind nichts wird.“
Nach einiger Zeit, niemand wusste, wie viel Zeit genau vergangen war, kehrte Klair zu ihrem Platz zurück, rührte wieder den Kaffee um und setzte die Tasse endlich erstmals an die Lippen. Niemand nahm Notiz davon, als sie das Getränk in vier langen, tiefen Zügen leerte. Manch einer realisierte noch nicht mal, dass Klairs Körper wie der einer leblosen Puppe zur Seite kippte, kurz Geralds Schulter streifte und auf den Holzboden fiel.
Niemand konnte sich erklären, wie das Gift in die Tasse gelangt war. Niemand konnte in den wässrigen, schrecklichen Augen der Toten lesen, dass sie es waren, die alten Kameraden, die sie ermordet hatten, wenngleich das Gift aus ihrer eigenen Tasche stammte. Bald sprach niemand der alten Abschlussklasse mehr darüber. Man musste schließlich noch arbeiten: Wahrscheinlichkeiten berechnen, über den Sinn des Lebens schreiben und – ach ja – Seelenkranke heilen.
Copyright: Meike Mittmeyer-Riehl, 2005
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