Sie lief.
Sie lief ohne Pause.
Sie lief ohne Pause, ohne durchzuatmen.
Sie lief ohne Pause, ohne durchzuatmen und ohne zu wissen, wohin sie lief.
Sie wusste nur, dass sie laufen musste; laufen, um zu leben.
Der Wind blies ihr ins Gesicht und wehte ihr langes Haar nach hinten.
Wie ein langer, schwarzer Schleier flatterte es hinter ihr her.
Sie hatte keinen Schatten, denn es gab keine Lichtquelle.
Alles war dunkel, denn es war schon längst Nacht.
Es gab keine Laternen und Lampen entlang dieses Weges, auf dem sie lief.
Noch nicht einmal der Mond konnte hier scheinen, so dunkel war es.
Die Sterne über ihr hatten ihren Strahl verloren; sie waren blasse, weiße Punkte wie leichte Farbspritzer auf einem schwarzen Blatt Papier.
Endlos führte der Weg sie geradeaus auf den Horizont zu.
Und wenn sie ihn erreicht hatte, erschien ein neues Stück Horizont noch weiter hinten.
Es gab kein Ende, aber es gab auch keinen Anfang.
Sie würde ewig so weiterlaufen.
Verfasst: ca. 2004
Eine Träne kullerte über ihr erhitztes Gesicht und löste sich vom Kinn, um hinab in die unendliche Schwärze zu fallen.
Es war so dunkel, dass sie ihre eigenen Füße nicht mehr sehen konnte.
Ihre bloßen, nackten Füße und ihre Beine, umweht von dem dünnen Nachthemd, das der Wind fest an ihren Körper presste.
Sie war müde und kraftlos, aber sie wollte auch laufen.
Sie wollte laufen, weil sie leben wollte.
Irgendwann wurde sie langsamer.
Irgendwann blieb sie stehen.
Sie war schon viel zu weit gelaufen.
Doch als sie einige Sekunden lang gestanden hatte, glaubte sie, ersticken zu müssen und lief schleunigst weiter.
Die Luft war dünn und kühl und der Wind war so kräftig, dass er sie zerdrücken könnte wie eine kleine Fliege, wenn sie nicht gegen ihn ankämpfte.
Sie musste kämpfen.
Sie musste laufen.
Immer schwerer wurden ihre Füße.
Kalt und schmerzend von dem eisigen Wind.
Nach ein paar Metern hörte sie plötzlich eine Stimme.
Nein, es war viel eher eine Melodie, die der Wind zu summen schien.
Oder kam sie von Blättern, die im Sturm rauschten?
Standen rings um den Weg herum vielleicht Bäume?
Sie blieb stehen, wandte sich gegen den Wind und lauschte.
Sehr leise und zart drangen Geräusche an ihr Ohr.
Schöne, weiche Klänge, die aus einer anderen, besseren Welt zu stammen schienen.
Sie passten nicht hierher; passten nicht auf diesen dunklen, kalten Asphaltweg; nicht in diese dunkle, kühle Nacht ohne Licht.
„Hallo?“, rief sie in den Wind hinein und hoffte, er würde sie verstehen. „Ist hier jemand? Ich habe mich verirrt! Ich kann nicht mehr gehen!“
„Du musst nur weiterlaufen“, sang das Stimmchen, das nun näher klang. Es gehörte einem Mädchen, das neben ihr auf dem Weg aufgetaucht war. Sie konnte es nur nicht sehen, weil es so dunkel war. Aber sie wusste, dass es da war.
„Wie lange muss ich noch laufen?“, fragte sie das Mädchen, das irgendwo dort neben ihr in der Dunkelheit stehen musste.
„Das weiß ich nicht“, sagte das Kind und zuckte die Schultern; sie konnte es nicht sehen, aber wenn es heller wäre, dann würde sie bestimmt ein kleines Mädchen dort stehen sehen, das die Schultern zuckte.
„Der Weg war noch nie so weit!“, klagte sie und verlor langsam auch das Gefühl in ihren Fingern, in ihren Armen.
„Er ist immer so weit, wie man ihn braucht“, antwortete das Mädchen vergnügt.
Sie überlegte eine Weile lang, was das Kind damit gemeint haben könnte.
Dann wandte sie sich wieder dem Wind zu und ging weiter.
Sie wusste nicht, was ihr diese Gewissheit gab, aber sie war sich ganz sicher, dass das kleine Mädchen ihr folgte.
Dass es ihr wie ein kleiner, leiser Schatten folgte.
Ein sanfter Schatten in der Nacht.
„Was tust du so allein hier draußen?“, fragte sie das Mädchen und versuchte, den stechenden Schmerz in der Brust zu ignorieren.
„Ich helfe“, antwortete das Kind, „ich helfe und ich begleite.“
„Heißt das, es verirren sich öfter Menschen hierher?“, fragte sie ein wenig hoffnungsvoll.
So war sie zumindest nicht die einzige, die sich nachts verlief.
„Oo ja, sehr oft“, sagte das Mädchen sofort. „Ich helfe ihnen immer.“
„Willst du – willst du nicht etwas näher kommen?“, schnaufte sie und streckte die Hände zu beiden Seiten aus, bekam jedoch nichts zu fassen.
„O nein, das darf ich nicht“, sagte das Mädchen in einem Tonfall, als hätte sie gerade etwas Böses angestellt und wäre sich dieser Schuld deutlich bewusst.
„Gib mir deine Hand!“, sagte sie und tastete in der Dunkelheit umher.
Der Wind drückte ihre Arme nach unten.
„Nein, das kann ich nicht“, sagte das Mädchen leise. „Ich begleite nur.“
„Mir ist so kalt“, sagte sie und hatte den Eindruck, dass ihr mindestens schon zwei Zehen abgefroren waren.
Nun hatte es auch keinen Sinn mehr, umzukehren.
Sie war verloren auf diesem endlosen Weg.
Trotzdem fragte sie mit wenig Hoffnung in der Stimme: „Kann ich noch umkehren?“
„Nein“, erwiderte das Mädchen ernst. Und dann sagte es etwas, das sie in Staunen versetzte. Es sagte: „Hab keine Angst.“
„Wovor soll ich Angst haben?“, wollte sie wissen.
„Na ja. Manche haben Angst. Es ist bald vorbei.“
„Was ist bald vorbei?“ Doch sie ahnte die Antwort schon. „Heißt das, ich werde sie alle nie mehr wieder sehen?“ Sie dachte an ihre Eltern und ihre Freunde.
„… ja …“, sagte das Mädchen zögerlich. „Du hättest den Weg nicht gefunden, wenn du sie gern wieder sehen würdest.“
„Warum?“, fragte sie und zitterte nicht mal mehr, so kalt war ihr.
„Du kannst diesen Weg nur finden, wenn du ihn finden willst. Ich begleite dich.“
Etwas Warmes streifte ihre erfrorene Wange und sie wich erschrocken zurück. „Bist du das? Mädchen? Mädchen!“ Sie tastete abermals umher, bekam jedoch nichts zu greifen. „Ich will nach Hause. Hörst du? Ich möchte sie wieder sehen! Ich möchte!“
„Nein“, sagte das Mädchen freundlich. „Dann hättest du den Weg nicht gefunden…“
„Was ist das denn für ein Weg?“, heulte sie verzweifelt. Sie fiel auf die Knie, wahrscheinlich war sie über irgendetwas gestolpert. Der Asphalt war rau und riss ihr Wunden ins Fleisch, die sie jedoch nicht einmal wahrnahm.
„Hab keine Angst. Hab keine Angst“, hauchte das Mädchen.
„Ich will nach Hause“, hauchte sie zurück und blieb mit dem Gesicht nach unten liegen.
Der Asphalt war warm; er war wärmer als der eisige Wind und das Laufen.
„Dann hättest du nicht laufen dürfen“, sagte das Mädchen mit dem Hauch eines Vorwurfs in der Stimme.
Sie erwiderte nichts mehr und blieb einfach liegen.
Der Wind streifte über sie hinweg und sauste laut in ihren Ohren.
Die Augen noch immer geöffnet und auf die Stelle gerichtet, an der sie das kleine Mädchen vermutete, fand man sie am nächsten Morgen, als es wieder hell war.
Copyright: Meike Mittmeyer-Riehl, 2004
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