Corona-Gedanken

Die Welt ist leiser geworden. Das liegt nicht nur daran, dass der Himmel über Rhein-Main flugzeugfrei ist. Oder dass weniger Menschen draußen sind, die laut reden und lachen. All das stimmt zwar auch, aber nein, das ist es nicht. Denn Geräusche sind schon da, aber sie klingen dumpf. Es ist eher so, als würde die Welt an sich plötzlich mehr Töne absorbieren als üblicherweise. Die Erde, das Gras, die Luft. Als würden sie alle Geräusche gierig verschlingen. Man könnte fast sagen, die Welt hat uns die Lautstärke heruntergedreht. Bei einem Spaziergang draußen im Feld knirschen die kleinen Kieselsteine unter meinen Schuhen, aber ich bin mir nicht sicher, ob das Knirschen wirklich da ist oder ob es nur in meinem Kopf dröhnt. Unnatürlich laut, so wie ein Echo in einer leeren Fabrikhalle. Wie ein plötzlicher Knall in einer Welt, die nicht für Geräusche gemacht zu sein scheint. Ich bleibe stehen, und dann ist da nur noch Stille. Eine Stille, die ich so bisher nur aus der Wüste in Namibia kannte. Eine Stille, die auf die Trommelfelle drückt wie ein Druckausgleich im Flugzeug.

Die Welt ist greller geworden. Das Wetter ist meistens gut, zu gut vielleicht, man würde sich mehr schlechtes Wetter wünschen, nicht nur wegen der anhaltenden Dürre und der bösen Vorahnung eines erneuten, rekordverdächtigen Sommers. Man würde sich auch deshalb mehr schlechtes Wetter wünschen, weil es unser aller Innenleben derzeit besser widerspiegeln würde. Der stahlblaue Himmel, der sonnengelbe Raps, die hellgrünen, frischen Blätter an den Bäumen wirken wie aus einem Bilderbuch herausgefallen, das eine Welt zeigt, die es nicht mehr gibt. Es ist, als würde uns die Welt mit diesem schönen Wetter hämisch ins Gesicht lachen und uns zurufen: Jetzt erst recht. Alles ist so hell, so grell, so unecht. Es fällt dieser Tage schwer, ohne Sonnenbrille das Haus zu verlassen. Man könnte fast sagen, die Welt hat uns einen Filter vor die Augen geschoben, den wir bislang nur aus Instagram kannten. Vielleicht haben wir bislang aber auch einfach nur nie genau genug hingesehen, weil wir wussten, dass Instagram das schon für uns erledigen würde. Wir brauchten unsere eigene Wahrnehmung nicht, haben auch diese Fähigkeit outgesourct, wie so vieles zuvor und noch so vieles danach.

Die Welt ist größer geworden, denn während ein Trip nach Neuseeland uns quasi gestern noch wie ein Katzensprung vorkam, erscheint uns heute schon unser Nachbar nebenan unendlich weit weg. Und so winkt man sich durch geschlossene Fenster hinweg zu und sieht seine eigene Unsicherheit im nervösen Lächeln des Nachbarn gespiegelt. Gleichzeitig ist die Welt aber auch kleiner geworden, wir haben uns zurückgezogen ins Hyperlokale, sogar ins Hyperprivate. Geschlossene Restaurants, geschlossene Konzerthallen, geschlossene Grenzen. Aber vor allem: geschlossene Herzen.

Die Welt ist langsamer geworden: Stunden fühlen sich an wie Tage, Tage wie Wochen und Wochen wie Monate. Und gleichzeitig blickt man ungläubig in den Kalender und stellt fest, dass man bereits etwa 60 Mal in einer anderen Welt aufgewacht ist, ohne sich überhaupt erinnern zu können, jemals eingeschlafen zu sein. Aber immer wieder aufs Neue hat man das Gefühl, aus ein und demselben Albtraum hochzuschrecken, um dann ernüchtert festzustellen, dass er gerade erst begonnen hat.

Die Krise teilt uns in drei Sorten Menschen: Jene, die Angst vor den Antworten haben, jene, die nach Antworten suchen und noch nicht wissen, ob sie Angst davor haben müssen und jene, die meinen, die Antworten längst zu kennen, ohne je danach gesucht zu haben. Letztere machen sich über die Angst der anderen lustig, ohne zu begreifen, dass die Selbstsicherheit, mit der sie ihre Haltung vertreten, auch nur Ausdruck ihrer eigenen Angst ist. Angst nämlich davor, sich einzugestehen, dass es Dinge gibt, die größer und mächtiger sind als sie selbst und über die sie keine Kontrolle haben. Manche nennen diese Macht Natur. Manche nennen sie Karma. Andere nennen sie Gott.

Die Welt ist empfindlicher geworden, verletzlicher. Über Jahrzehnte hinweg. Aber wir haben ihr nicht zugehört, haben sie ständig übertönt. Wir könnten jetzt lernen, zuzuhören. Aber werden wir das? Erleben wir gerade nur den Tod einer Weltordnung oder auch die Geburt einer neuen? Eines Tages werden wir feststellen, dass wir aufwachen und unser Albtraum vorüber ist. Möglicherweise hat ein neuer für die Welt dann aber gerade erst begonnen.

Copyright: Meike Mittmeyer-Riehl, 2020
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Beitragsfoto: Meike Mittmeyer-Riehl, 2020

Veröffentlicht von Meike Mittmeyer-Riehl

Mein Name ist Meike, ich bin Anfang 30 und komme aus Südhessen. Ich bin Journalistin und arbeite derzeit halbtags als Pressesprecherin einer Kommune und nebenher freiberuflich für die Zeitungen im VRM-Verlag. Ich liebe es, durch die Welt zu reisen, Neues zu entdecken, in Pfützen zu springen, stundenlang in die Sterne zu schauen, bei Rockkonzerten laut mitzusingen und meine Katze zu streicheln.

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