Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie komisch es war,
Als die Kontaktbeschränkungen neu waren und man plötzlich niemanden mehr umarmen durfte.
Umarmungen, die hatte man doch so völlig selbstverständlich und nebenbei verteilt:
Hier die Freundin im Café, da der Arbeitskollege nach dem Urlaub,
Eltern, Bruder, sonstige Familie natürlich sowieso.
Und auf einmal musste man sich höllisch darauf konzentrieren,
Diese beiläufige Geste sein zu lassen, von heute auf morgen.
Ich habe mir in dieser Zeit oft vorgestellt,
Wie sie wohl werden wird: die erste Umarmung nach Corona.
Und je näher sie jetzt rückt, desto unwohler fühle ich mich damit.
Symbolisiert sie doch so deutlich wie kaum eine andere Geste die alte Normalität,
die uns abhandengekommen ist über die letzten eins-Komma-irgendwas Jahre.
Alle reden von „Normalität“, aber wissen wir nach so langer Zeit überhaupt noch, was das ist?
Ich glaube eher, wir versuchen eine alte Normalität
Auf Biegen und Brechen in einen Rahmen zu zwängen,
in den sie nicht mehr hineinpasst.
Denn er ist verbogen, verbeult und ausgeleiert.
Es ist immer leichter, in eine neue, ungewohnte, unangenehme Situation hineinzukommen
Als wieder heraus.
Denn hinein wird man geschubst.
Heraus muss man selbst finden:
Kletternd, kraxelnd, kriechend, springend. Wie auch immer.
Hauptsache raus.
Wir haben uns ein Schneckenhaus gebaut.
Haben uns Bananenbrot-backend, strickend, lesend, skypend, joggend
Durch diesen Pandemie-Alltag gehobbyt.
Ich zum Beispiel habe mir einen Hula-Hoop-Reifen gekauft.
Bezeichnend für diese Zeit, irgendwie, dreht der sich doch unermüdlich im Kreis um meine Hüfte
Und kommt dabei doch keinen Millimeter voran.
Aber abgesehen davon war mein substanzieller, kreativer Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte in all dieser Zeit:
Zero.
Wenn man mich vor genau einem Jahr gefragt hätte, was das erste sein wird, das ich nach überstandener Pandemie tue, hätte ich mit Inbrunst gerufen:
„Die ganze Welt umarmen! Und mir dann auf Konzerten wieder die Seele aus dem Leib brüllen, zusammengepfercht mit Tausenden anderen.“
Jetzt, ein Jahr später, müsste ich diese Frage mit einem nichtssagenden, aber ehrlich gemeinten „Hm“ beantworten.
Standen wir früher wirklich zu Tausenden, ja Zehntausenden dicht gedrängt beieinander
Sodass man Leib von Leib nicht mehr unterscheiden konnte
Und fühlten uns auch noch wohl dabei?
Heute zucke ich schon zusammen, wenn im Fernsehen eine Menschenmenge aus längst vergangenen Zeiten gezeigt wird.
Wie unrealistisch. Fast wie Science-Fiction.
Vielleicht habe ich verlernt, was ich einst liebte.
Vielleicht habe ich auch nur vergessen, was ich daran mochte.
Bestimmt kommt die Erinnerung wieder. Ja, hoffentlich.
Vielleicht.
Die Eintönigkeit der Tage hat Einzug gehalten in unser Denken und unser Fühlen
Und ich kenne kaum jemanden, den diese rasende, rastlose Stille
Zu kreativen Höhenflügen befähigt hätte, auch wenn wir uns das alle sicher gewünscht haben.
Doch an die Stelle jeglicher Kreativität trat eine dumpfe, bleierne Schwere.
Abgekämpft und ermattet von so manchen Diskussionen
Desillusioniert und entfremdet von manchen Menschen, von denen man einst dachte, sie stünden einem nahe.
Zu wütend, um müde zu sein.
Zu müde, um wütend zu sein.
Andere, schlauere Leute haben ein treffendes Wort für diesen Gemütszustand gefunden: mütend.
Ja, ich bin auch mütend.
Und manchmal frage ich mich schon ernsthaft, ob das Echo dieser brüllenden Leere
Jemals wieder verhallen wird, oder ob es bleibt.
Wie eine Art kollektiver gesellschaftlicher Tinnitus.
Leise genug, wenn das Leben laut und lärmend ist.
Aber laut genug, um uns in den stillen Momenten unangenehm daran zu erinnern:
Hallo, ich bin auch noch da.
Wird alles wie früher?
Hm.
Und doch war nicht alles umsonst.
Hat uns das Leben doch auf bittere Weise gezwungen, zu lernen:
Keine Umarmung ist selbstverständlich.
Lächeln kann man nicht nur mit dem Mund.
Hilfe kommt oft von völlig unerwarteter Seite.
In Krisen zeigen Menschen ihr wahres Gesicht (auch wenn es hinter einer Maske verborgen ist).
Freundschaften halten nicht alles aus.
Und vielleicht müssen wir genauso lernen, diese Ambivalenz auszuhalten:
Angst davor zu haben, dass nichts mehr so sein wird wie es einmal war
Und gleichzeitig Hoffnung daraus zu schöpfen, dass alles anders werden wird als zuvor.
Copyright Meike Mittmeyer-Riehl, Mai 2021
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