Die Flaschenpost

Bild von Antonios Ntoumas auf Pixabay

Paris

„Krisen-Meeting. Morgen früh. 8 Uhr. PÜNKTLICH!“ Seitdem diese Kurznachricht seines Chefs gestern am späten Abend bei ihm eingetroffen war, hatte Luc sich den Kopf darüber zerbrochen, was wohl geschehen sein mochte. Er arbeitete jetzt seit knapp zehn Jahren in der Kommunikationsabteilung der europäischen Weltraumorganisation in der Hauptzentrale in Paris und es hatte in all diesen Jahren noch nie ein Krisen-Meeting seines Teams gegeben. Hatte es eine Fehlfunktion eines Satelliten oder einer Sonde gegeben? Der letzte Start war bereits vor einigen Monaten gewesen und alles war reibungslos verlaufen. War jetzt vielleicht ein Problem aufgetreten? Hatte man den Funkkontakt zu einem Satelliten verloren? Oder war gar einer abgestürzt?

Es hingen hunderte Millionen oder gar Milliarden an den einzelnen Missionen, Raumfahrt war ein teures Geschäft. Der Verlust eines Satelliten würde sicherlich eine Krisen-Sitzung der Kommunikationsabteilung rechtfertigen. Oder war etwas noch Schlimmeres geschehen? War etwa einem ihrer europäischen Astronauten, die gerade auf der ISS forschten, etwas zugestoßen? Gegen diese Theorie sprach jedoch die Tatsache, dass die italienische Astronautin vor nicht einmal 12 Stunden noch eine Reihe Bilder auf Instagram gepostet hatte, die den Ausblick über Australien und das Raumfahrer-Team beim fröhlichen Saltoschlagen gezeigt hatten. Nichts hatte auch nur im Geringsten auf irgendein Problem hingedeutet. Luc schloss für einen Moment die Augen und lauschte dem gleichmäßigen Rattern der U-Bahn, um sein wie wild arbeitendes Gehirn zu beruhigen, das sich immer neue und immer schrecklichere Szenarien ausmalte. Gleich würde er es wissen. Gleich war er da.

Janine, die Teamassistentin, hatte wie jeden Morgen frische Croissants im Konferenzzimmer bereitgestellt. Der herrliche, buttrige Duft versüßte dem Kommunikationsteam immer den Start in den Tag, und auch heute vermittelten die Gebäckstücke ein kleines Stückchen Normalität, auch wenn Luc bei ihrem Anblick vor Aufregung eher übel wurde. „Guten Morgen, Luc“, sagte Janine strahlend, während sie Kaffee in sieben Tassen verteilte, „greif zu!“ Hätte er nur Janine und die Croissants gesehen, dann hätte es wirklich ein ganz normaler Tag sein können. Doch die versteinerten, angespannten Mienen seiner Kolleginnen und Kollegen, die bereits am Konferenztisch saßen, sprachen eine andere Sprache. Luc setzte sich zu ihnen, mühte sich ein gequältes Lächeln in Janines Richtung ab und wartete, bis sie den Raum verlassen hatte. Dann fragte er die anderen: „Wisst ihr irgendwas?“
Seine Kollegin Annette schüttelte den Kopf. Sie war sehr blass. „Es muss aber was Großes sein. Was Internationales. Ich war gestern spät abends noch hier und habe mitbekommen, dass er mehrfach mit den Kommunikationsteams der anderen Raumfahrtorganisationen gesprochen hat: NASA, Roskosmos, ISRO, CNSA, vermutlich waren alle dabei.“ Es vergingen einige quälende Minuten in angespannter Stille.
Luc nahm sich doch ein Croissant, obwohl er nicht den leisesten Hunger verspürte, einfach nur, um etwas zu tun zu haben. Wenig später rauschte ihr Chef Jean-Paul ins Konferenzzimmer und ließ die Tür krachend hinter sich ins Schloss fallen. Er wirkte kurzatmig und gehetzt und sah mit seinen tiefen Augenringen und den wuscheligen Haaren in etwa so übernächtigt aus, wie Luc sich fühlte.

„Also Leute, ich mache es kurz“, sagte Jean-Paul, „heute Morgen seid ihr das letzte Mal in der Welt, wie wir sie kennen, aufgewacht. Ab jetzt ist alles anders.“ Jean-Paul neigte hin und wieder mal zum Pathos, aber diese Sätze klangen selbst für ihn ziemlich übertrieben. Niemand wagte es, etwas zu sagen. Jean-Paul setzte sich nicht und sah keinen seiner Mitarbeiter an. Stattdessen tigerte er unruhig auf und ab wie ein wildes Tier in Gefangenschaft und fuhr fort: „Das, was ich euch jetzt sage, wird diesen Raum nicht verlassen, bis ich euch dazu die Befugnis erteile, verstanden? Es gilt eine absolute Nachrichtensperre. Zumindest so lange, bis wir uns international auf ein gemeinsames Vorgehen verständigt haben. Die Vereinten Nationen und die NATO werden in diesen Minuten über die Lage unterrichtet, es wird dann weitere Abstimmungen geben. Die Presse wird früher oder später Wind davon bekommen und sich auf uns stürzen wie die Hyänen auf ein totes Nashorn. Wir kommentieren nichts, dementieren nichts, bestätigen nichts. Habt ihr das alle verstanden?“

Die sechs Mitarbeiter nickten stumm. Luc knetete das Croissant in seinen Händen, riss ein Stück ab und steckte es sich in den Mund, nur, um sich selbst daran zu hindern, laut auszurufen: „Jetzt sag es doch endlich!!!“
Jean-Paul atmete tief durch und fuhr sich durch das schüttere, wuschelige Haar. Endlich blieb er stehen und blickte in Richtung seiner Mitarbeiter, ohne auch nur einen von ihnen wirklich zu sehen. „Es wurde etwas gefunden. Auf dem Kometen unserer „Comet Catcher“-Mission. Ein Objekt. Oder – eine Nachricht. Beides, vermutlich. So genau steht das noch nicht fest, die Untersuchungen laufen auf Hochtouren. Fest steht allerdings schon jetzt, dass es nicht natürlichen Ursprungs ist. Und definitiv nicht irdischen. Unsere Partneragenturen bestätigen diese Befunde. Sie sind eindeutig.“
Stille. Niemand der sieben Anwesenden schien zu atmen. Schließlich durchbrach Annette die Stille, und ihre Worte dröhnten in den Ohren aller, obwohl sie flüsterte: „Aber Jean-Paul, heißt das etwa, dass-“
„Ja“, unterbrach der Chef sie, „genau das heißt es. Wir haben auf dem Kometen die Flaschenpost einer außerirdischen Intelligenz gefunden.“
Lucs Kinnlade klappte unwillkürlich hinunter und das Stück Croissant fiel ihm aus dem offenen Mund. Niemand nahm Notiz davon.

Frankfurt

Das schrille Läuten seines Festnetz-Telefons riss Manuel Ritter aus dem Tiefschlaf. 06.35 Uhr zeigte sein Radiowecker in grellroten Ziffern an. Niemand, der seine Festnetz-Nummer kannte, störte ihn je zu solch einer für ihn nachtschlafenden Zeit. Er war kein Morgenmensch, das ließ er auch jeden gern spüren, der den schrecklichen Fehler beging, vor 9 Uhr einen Termin oder eine Sitzung mit ihm anzuberaumen. Das Telefon läutete in brutaler Lautstärke weiter. Sieben Mal. Acht Mal. Neun Mal. Dann blieb es still, der Anrufbeantworter war angesprungen. Ritter wälzte sich zufrieden auf die Seite, doch kurz bevor er wieder eingeschlummert war, ließ ihn das schrille Läuten erneut zusammenzucken. Diesmal hob er gefühlt mehrere Zentimeter von der Matratze ab. Was konnte denn um diese Zeit so wichtig sein, Herrgott nochmal? Übellaunig warf er die Bettdecke zurück und tapste auf nackten Füßen in Richtung Flur. Das Telefon schien immer ungeduldiger zu werden und noch schneller und schriller zu läuten, je näher er ihm kam. „Ja, bitte?!“, blaffte er in den Hörer, während er sich mit der anderen Hand den Schlaf aus den Augen rieb.
„Guten Morgen Manuel. Hannes hier. Hannes Schüler, erinnerst du dich? Wir haben zusammen studiert.“
Ritters Laune verschlechterte sich noch weiter, wenn das überhaupt möglich war. Hannes Schüler, natürlich erinnerte er sich an seinen früheren Kommilitonen, mit dem er an der Uni Bayreuth Soziologie studiert und sich eine WG geteilt hatte. Er war schon immer ein arroganter Blender gewesen, ein Politiker durch und durch, der direkt nach der Uni als Abgeordneter in den Landtag eingezogen war, dort aber wider Erwarten nie einen wichtigen Posten ergattert hatte. Danach war er, wenn Ritter sich recht erinnerte, als Berater nach Berlin in ein Ministerium gegangen. Es musste mindestens 15 Jahre her sein, seit sie das letzte Mal Kontakt gehabt hatten.

„Woher hast du meine private Nummer?“, fragte Ritter unfreundlich.
„Hör mal, du forschst doch immer noch in diesem merkwürdigen Gebiet, oder?“, redete Hannes weiter, ohne auf die Frage einzugehen. „Exosoziologie, meine ich. Oder?“
Ritter schnaubte. Früher hatte Hannes keine Gelegenheit ausgelassen, ihn wegen seines außergewöhnlichen Forschungsschwerpunktes, der die gesellschaftlichen Auswirkungen eines Erstkontakts zwischen Menschen und einer außerirdischen Intelligenz zum Inhalt hatte, als „UFO-Spinner“ oder „E.T.-Anhänger“ zu veräppeln. Das hatte ihm an der Uni den endgültigen Status eines Sonderlings eingehandelt – was vor allem bei den Mädchen äußerst schlecht angekommen war. „Ja, allerdings“, antwortete Ritter und es schwang vielleicht eine Spur zu viel gekränkter Stolz in diesen Worten mit.
„Gut, gut, sehr gut“, sagte Hannes und erst jetzt fiel Ritter auf, dass er die ganze Zeit schon ziemlich nervös klang – eine Eigenschaft, die er von seinem früheren Kommilitonen überhaupt nicht kannte. Wenn Hannes eine Kunst zur Perfektion beherrscht hatte, dann die, auch bei absoluter Ahnungslosigkeit selbstsicher, routiniert und gelassen rüberzukommen. Davon war ihm jetzt keine Spur mehr anzuhören, im Gegenteil: Seine Stimme hatte einen beinahe panischen Unterton.
„Du musst sofort nach Berlin kommen, Manuel“, sagte Hannes dann nach einer längeren Pause, „die Bundesregierung benötigt deine Expertise. Ich buche dir einen Flug um 9 Uhr. Mach dich bitte direkt auf den Weg.“

Paris

Lucs Finger schwebten wenige Millimeter über seiner Tastatur und zitterten. Er war gerade im Begriff, die wohl bedeutendste Pressemitteilung in der Geschichte der europäischen Raumfahrt – wenn nicht der gesamten Menschheit! – zu verfassen. Die Nachricht würde einschlagen wie eine Bombe, es würde vielleicht zu Massenpaniken kommen. Wer wusste das schon so genau, denn man hatte Szenarien wie dieses nie real durchgespielt. Die Möglichkeit war einfach immer zu phantastisch erschienen, um je real werden zu können. Das Klingeln des Telefons ließ Luc zusammenzucken, seine Finger tippten dabei unwillkürlich auf die Tastatur und hinterließen auf dem Bildschirm einen Buchstabensalat. Einige Sekunden lang starrte er das Telefon unschlüssig an wie eine Zeitbombe, die jeden Moment explodieren könnte. Dann seufzte er und nahm ab. Es würde nicht der einzige Anruf des Tages bleiben.

„Chéri!“, schrie ihm eine hohe weibliche Stimme ins Ohr. Er hielt den Hörer mehrere Zentimeter von seinem Gehörgang weg. Oh nein, die hatte ihm gerade noch gefehlt. Es war Veronique, eine Reporterin der größten französischen Boulevardzeitung, die hin und wieder in reißerischer Manier über Weltraumthemen berichtete. Meistens, ohne die Behörde dabei sonderlich gut aussehen zu lassen. Er hatte in der Vergangenheit leider den Fehler begangen, einmal mit ihr auszugehen.

„Hör mal zu, Chéri, diese UFO-Spinner drehen derzeit wieder hohl, angeblich empfangen sie Alien-Signale!“, quasselte Veronique los, ohne eine Begrüßung seinerseits abzuwarten. Oh nein. Damit warf ihm die Reporterin gleich noch seinen zweiten großen Fehler um die Ohren, den er während dieses besagten Dates begangen hatte. Er hatte ihr – nach dem Genuss mehrerer Gläser Wein – gestanden, dass er die privaten SETI-Initiativen, die nach Signalen aus dem All lauschten, allesamt für Spinner hielt und nicht an die Existenz von intelligentem Leben außerhalb der Erde glaubte, denn dann wären die Aliens längst hier gewesen. Das hatte eines Tages natürlich wortwörtlich so in dem Klatschblatt gestanden. Luc konnte froh sein, dass Jean-Paul ihn deshalb nicht gefeuert hatte.

„Was sagt ihr denn zu diesen angeblichen Wow-Signalen?“, fuhr Veronique unbarmherzig fort. „In sozialen Netzwerken ist der Teufel los, das Thema trendet überall. Steht uns wirklich eine Invasion der grünen Männchen bevor, hm?“
„Ich kann dir dazu nichts sagen“, antwortete Luc steif.
Veronique schien es für einen Augenblick die Sprache zu verschlagen, was ungewöhnlich für sie war. Dann sagte sie: „Oh, also ist es wahr? Okay, das, ähm, ist ziemlich unerwartet.“
„Ich habe lediglich gesagt, dass ich dazu keine Angaben machen kann“, sagte Luc, wusste aber längst, dass er verloren hatte. Die reißerische Schlagzeile war bereits geboren, sie würde in wenigen Minuten online stehen und wie ein Lauffeuer um die Welt gehen.
„Woher kommen diese Signale, Luc? Konntet ihr sie schon entschlüsseln? Wann gedenkt ihr, die Öffentlichkeit über solch eine Sensation zu informieren? Oder wollt ihr das etwa geheim halten, die Menschheit im Dunkeln lassen?“ Jetzt sprudelten die Fragen nur so aus Veronique heraus. Luc hatte keine Zeit mehr zu verlieren, er musste eine seriöse Mitteilung verfassen, bevor sich Gerüchte verbreiteten, die vielleicht noch größere Panik verursachten als die Wahrheit.
„Ich lege jetzt auf“, sagte er und wartete keine Antwort mehr ab. Dann schwebten seine Finger wieder wenige Millimeter über der Tastatur. Sie zitterten nicht mehr. Entschlossen begann er zu tippen. Das schrille Klingeln seines Telefons, das den ganzen Tag über nicht mehr aufhören würde, ignorierte er jetzt erstmal.

Berlin

Sein früherer Kommilitone Hannes Schüler empfing Manuel Ritter im Außenministerium. Er wirkte größer und schlaksiger als er ihn in Erinnerung hatte, und sein etwas zu locker sitzender Anzug ließ erahnen, dass er in kurzer Zeit ziemlich stark abgenommen hatte. Obwohl die fahlen Wangen und die tiefen Augenringe vermuten ließen, dass Hannes ziemlich übernächtigt war, lächelte er auf genau die gleiche entwaffnende, bestechende Art und Weise wie früher, die vor allem bei den weiblichen Kommilitoninnen immer so gut angekommen war. Offensichtlich hatte er seine Fassung wiedergewonnen, denn in seiner Stimme lag jetzt kein Anflug von Panik mehr, als er mit ausgebreiteten Armen auf Ritter zuging und sagte: „Willkommen, alter Freund. Schön, dich hier im Außenministerium begrüßen zu dürfen. Ich werde dich gleich mit unserer Außenministerin bekannt machen. Aus dem Fernsehen dürftest du sie ja bereits kennen.“ Er schüttelte Ritter überschwänglich und übertrieben lange die Hand und drückte dabei viel zu fest zu, fast so, als suche er daran verzweifelt nach Halt. „Es handelt sich bei dieser Angelegenheit ja im weitesten Sinne um Außenpolitik – wenn man das so definieren darf, oder?“ Er lachte sein altbekanntes, donnerndes Lachen, doch Ritter nahm es ihm diesmal nicht so ganz ab. Es klang merkwürdig hohl und falsch. „Daher hat die Ministerin die Leitung des deutschen Krisenstabes übernommen. Mit der EU-Kommission und unseren wichtigsten Partnern in Washington, Peking und Moskau steht sie natürlich in ständigem Austausch. Mensch, da haben wir vielleicht eine Story, was? Wer hätte das je für möglich gehalten.“

Ritter verzog spöttisch das Gesicht, erwiderte aber nichts. Wenn ihr mich und meine Forschung schon damals etwas ernster genommen und nicht immer nur als Alien-Spinnerei abgetan hättet, dann wären wir jetzt ein ganzes Stück besser vorbereitet, dachte er grimmig bei sich und folgte Hannes durch lange, leere Korridore. Dann betraten sie gemeinsam einen großen Konferenzraum, der aussah wie ein kleiner Plenarsaal. „Meine Damen und Herren, der Exosoziologe ist da“, sagte Hannes zu den fünf Personen, die dort beisammensaßen. Neben der Außenministerin wurde Ritter mit dem Innenminister, der Verteidigungsministerin, dem Gesundheitsminister und dem Generaldirektor der Europäischen Weltraumagentur, aktuell ein Deutscher, bekannt gemacht. Alle kannte er natürlich bereits aus dem Fernsehen und fühlte sich jetzt, da er ihnen die Hand schüttelte und leibhaftig gegenüberstand, merkwürdig klein und unbedeutend.
„Bitte setzen Sie sich, Herr Ritter“, sagte die Außenministerin, „es ist höchste Eile geboten.“
Manuel Ritter hörte regungslos zu, während die Außenministerin ihm in knappen, eiligen Sätzen die Hintergründe erläuterte. Der Europäischen Weltraumbehörde war vor einigen Monaten eine wissenschaftliche Sensation gelungen: die Landung auf einem interstellaren Kometen, also einem Besucher aus einem anderen Sternensystem, der das Sonnensystem durchquerte. Für die „Comet Catcher“-Mission war eine Sonde in 1,5 Millionen Kilometern Entfernung von der Erde in einer Art Warteposition platziert worden, um dort auf einen Kometen aus einem anderen Sternensystem zu lauern. Zuvor war es nie gelungen, interstellare Kometen rechtzeitig zu entdecken, um sie näher untersuchen zu können. Die Brocken tauchten meist unerwartet auf, dann war es viel zu spät, eine Sonde hinzuschicken, denn die Entfernungen selbst innerhalb unseres eigenen Sonnensystems sind gigantisch. Die einzige Chance, einen solchen Kometen zu erwischen, war, ihn abzufangen, sobald er auftauchte.

Genau das war nun mit der Mission gelungen: Ein Landegerät setzte stabil und sicher auf dem Rücken des Riesen auf, während eine Sonde ihn umkreiste. Ritter hatte den Erfolg der Mission natürlich in den Medien verfolgt. Von den Gesteinsproben, die das Landegerät sammelte und zur Erde zurückbringen sollte, versprachen sich die Wissenschaftler neue, spannende Erkenntnisse über die Zusammensetzung und Herkunft des Besuchers. Doch es kam anders als erwartet. Das Landegerät fand unter Geröll- und Gesteinsschichten verborgen vor wenigen Tagen etwas anderes. Etwas, das nicht dorthin passte. Etwas, das das Selbstverständnis der Menschheit und das aktuelle Bild des Universums komplett auf den Kopf stellen würde. „Ich würde nun den Herrn Generaldirektor bitten, der gleich wieder zurück nach Paris muss, Herrn Ritter in aller Kürze darüber zu unterrichten, um was für eine Art von Fund es sich genau handelt“, leitete die Außenministerin zum Chef der Weltraumbehörde über.

„Ja, natürlich. Danke, Frau Ministerin. So ganz genau ist das noch nicht geklärt“, sagte der Generaldirektor, „woraus das Objekt besteht, wissen wir noch nicht. Es scheint sehr alt zu sein, weist aber keinerlei Zeichen von Verwitterung auf. Am ehesten könnte man es als eine Art Scheibe bezeichnen, perfekt glatt und rund, ohne Kanten und Nähte, und mit so etwas wie – zumindest macht es den Anschein – Schriftzeichen darauf.“
„Das Artefakt-Szenario“, murmelte Ritter, als der Generaldirektor für einen Moment pausierte, um einen Schluck Wasser zu trinken.
„Wie bitte?“, fragte die Außenministerin.
„Ich ähm – Entschuldigung, ich wollte die Ausführungen nicht unterbrechen, ich – ich habe nur gesagt, dass es sich hier also um das Artefakt-Szenario handelt. In der Exosoziologie haben wir verschiedene Szenarien entworfen, Gedankenexperimente, wenn Sie so wollen, die verschiedene Möglichkeiten eines Erstkontakts zwischen Menschen und Außerirdischen durchspielen: Beim Signalszenario werden von Radioteleskopen auf der Erde Signale aufgefangen, die eindeutig künstlichen Ursprungs sind. Beim Artefakt-Szenario, das jetzt offenbar Realität geworden ist, stößt man auf ein außerirdisches Objekt, eine Sonde oder vielleicht auch nur ein Trümmerteil. Beim dritten Szenario, dem Begegnungsszenario, geht es um einen direkten Kontakt, also etwa die Landung eines Raumschiffs auf der Erde.“ Ritters Stimme war mit jedem Satz fester und selbstsicherer geworden. Es war für ihn zwar noch immer unbegreiflich, dass das, woran er sein Leben lang geglaubt und geforscht hatte – aber immer nur in der Theorie! – plötzlich Wirklichkeit geworden sein sollte. Vielleicht befand er sich noch in einer Art Schockstarre und funktionierte einfach nur wie eine Maschine angesichts des Unfassbaren, aber sein Kopf war klar und er fühlte sich plötzlich sicher in seiner Materie, so sicher wie wohl noch nie zuvor.
„Nun, wenn das so ist, dann handelt es sich bei unserem Fund um eine Art Mischszenario aus allen dreien“, sagte der Generaldirektor, der Ritter aufmerksam zugehört hatte, „denn das, was ich erzählt habe, war noch nicht alles. Das Artefakt sendet nämlich auch noch Signale aus. Es hat den Anschein, als sei es, kurz nachdem wir es ausgegraben hatten, auf irgendeine Weise aktiviert worden. Denn seitdem verströmt es am laufenden Band Signale. Es hat ein gigantisches Mitteilungsbedürfnis. Wir schließen die Möglichkeit nicht aus, dass es sich um eine künstliche Intelligenz handelt. Das ist auch der Grund, weshalb wir diesen Fund nicht länger geheim halten können – auch wenn das für die internationale Sicherheit wohl die bessere Lösung wäre. Die Signale werden jeden Moment die vielen privaten SETI-Initiativen auf den Plan rufen, die schon seit Jahrzehnten vergeblich ins All lauschen. Das Artefakt ist gerade dabei, sein Geheimnis selbst zu lüften. Unsere Wissenschaftler sind aktuell damit befasst, zu versuchen, es aus dem Gestein zu bergen und statt der ursprünglich geplanten Gesteinsproben zur Erde zu bringen, damit wir es eingehender untersuchen können. Das wird schwierig bis unmöglich, da das Landegerät dafür eigentlich nicht gemacht ist. Und es wird natürlich Monate dauern.“
Ritter hob die Hand wie ein ehrgeiziger Zweitklässler, um zu signalisieren, dass er etwas sagen wollte, auch wenn das den hohen Herrschaften gegenüber vielleicht albern wirkte. „Sie wollen es zur Erde holen, Herr Generaldirektor? Wirklich? Es könnte gefährlich sein. Woher wissen wir, dass es sich nicht um eine Waffe handelt?“ Auch solche Gedankenexperimente hatte Ritter im Rahmen seiner Exosoziologie-Forschung immer wieder durchgespielt. Mit keinem guten Ende.
Die Verteidigungsministerin rührte sich auf ihrem Stuhl und sah so aus, als wolle sie etwas sagen, doch die Außenministerin kam ihr in scharfem Tonfall zuvor: „Das braucht jetzt nicht Ihre Sorge sein und liegt auch nicht in Ihrer Entscheidungsgewalt, Herr Ritter. Daher sollten Sie zum jetzigen Zeitpunkt keine Kapazitäten dafür verschwenden, das tun gerade die besten Astrophysikerinnen und Astrophysiker auf der ganzen Welt. Uns interessieren jetzt, da Sie in die Geschehnisse eingeweiht sind, erst einmal viel weltlichere Probleme, und dabei sind Sie der wertvollste wissenschaftliche Berater, den wir hierzulande finden konnten.“ Sie schloss für einen Moment die Augen und massierte sich die Schläfen, als hätte sie stechende Kopfschmerzen. „Was wir von Ihnen brauchen, ist eine Einschätzung darüber, mit welchen gesellschaftlichen Konsequenzen wir jetzt rechnen müssen, wenn der Fund publik wird. Wir haben wenige Tage, vielleicht nur Stunden, um uns über die Tragweite bewusst zu werden und entsprechende Maßnahmen einzuleiten.“ Sie räusperte sich und schaute kurz in die Runde. Alle Augen waren auf Ritter gerichtet. „Also, Herr Ritter“, sagte die Außenministerin, „auf was müssen wir uns einstellen? Massenpanik? Hamsterkäufe? Plünderungen? Börsen-Crash?“
Ritter rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. Plötzlich war ihm schlecht. Der Druck der Verantwortung lastete tonnenschwer auf seinem Brustkorb, als säße dort ein Elefant. Er schluckte, wurde aber den dicken Kloß in seinem Hals nicht los. Dann atmete er tief ein und aus und blickte der Außenministerin direkt in die Augen: „Möglicherweise mit allen von Ihnen genannten Punkten, Frau Ministerin. Und mit mehr.“

In einer Sache irrten sich sowohl Luc als auch Manuel Ritter in ihren Einschätzungen: Die Nachricht schlug nicht ein wie eine Bombe, und zur befürchteten weltweiten Massenpanik kam es zunächst nicht. Es schien eher, als verbreite sich die Mitteilung wellenartig und stoße dabei immer wieder auf hohe Dammmauern in Form von Skepsis, Misstrauen und Leugnung. Für Ritter und die wenigen anderen Vertreter seiner exotischen Fachrichtung war die Reaktion der Öffentlichkeit vor allem so etwas wie eine hochinteressante Fallstudie. Die Exosoziologie, eine Zukunftswissenschaft, wurde nun mit der Gegenwart konfrontiert. Ritter konnte seine Theorien und Gedankenexperimente erstmals wie eine Schablone auf die Wirklichkeit legen, um daran abzulesen, wo er richtig gelegen hatte und wo daneben. Völlig unterschätzt hatte er die Fähigkeit des Menschen zur Realitätsverweigerung. Trotz der erdrückenden Beweise, die von den internationalen Weltraumbehörden offengelegt worden waren, hielten viele Menschen die Nachricht für einen schlechten Scherz.

Manche wähnten sich gar inmitten einer riesigen, von langer Hand geplanten Regierungsverschwörung. Rasch bildete sich sogar eine Sammelbewegung unter dem Namen „Die Weltlichen“, dominiert von Ultrakonservativen und Strengreligiösen aller Glaubensrichtungen, die riesige Demonstrationen veranstalteten. „Das Alien-Artefakt ist eine LÜGE und eine FÄLSCHUNG“, skandierten sie auf diesen Kundgebungen, „diese angeblichen Alien-Botschaften sind die Hitler-Tagebücher des 21. Jahrhunderts!“ Den öffentlichen Raumfahrtagenturen warfen sie Panikmache und wissenschaftliche Schlamperei vor.

Den Teil derer, die in Angst und Panik verfielen, hatte Ritter hingegen überschätzt. Zwar kam es weltweit zu einigen kleineren Vorfällen aufgrund von Massenpaniken, aber in räumlich sehr begrenztem Ausmaß, sodass mit lokalen Ausgangssperren reagiert werden konnte. Ein erstaunlich großer Teil der Bevölkerung hingegen konnte sich für die mysteriöse Himmelsscheibe, wie das Artefakt in Anlehnung an die Himmelsscheibe von Nebra bald nur noch genannt wurde, sogar hellauf begeistern. Plötzlich sahen sich Science-Fiction-Fans, UFO-Jäger und Esoteriker, auch jene mit den krudesten Ideen, bestätigt und fanden viele neue Anhänger. Um die Dechiffrierung der Schriftzeichen auf der Scheibe sowie die Botschaften, die das Artefakt an die Erde funkte, war ein aufgeregter Wettbewerb entbrannt. Kunst, Kultur und Musik griffen den neuen Trend dankbar auf und es entstand eine regelrechte Alien-Pop-Kultur. Zwischen all diesen Extremen stand eine ratlose, unentschlossene Mitte, die sich nicht so ganz entscheiden konnte, was sie von dem Alien-Hype halten sollte.

Ritter war neben seiner Funktion als politischer Berater inzwischen ein gefragter Talkshow-Gast und Interviewpartner internationaler Medien geworden und versuchte sein Bestes, um der Öffentlichkeit das Gefühl der Verunsicherung zu nehmen. Eigentlich hätte er erschöpft sein müssen angesichts seines Arbeitspensums, aber tatsächlich fühlte er sich wacher und fitter als je zuvor. Es klang komisch, aber es fühlte sich so an, als wäre ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen. Wenn Ritter in seinem inzwischen atemlosen Alltag abends mal eine halbe Stunde Zeit zur Selbstreflexion fand, setzte er sich hin und notierte handschriftlich, welche Themen künftig stärker in die Exosoziologie-Forschung einfließen mussten – irgendwann, wenn der Trubel sich wieder gelegt hatte.

Auch auf politischer Ebene gingen die Meinungen über den Fund weit auseinander und sorgten für Spannungen in den Vereinten Nationen und der NATO. Manche Staaten erwogen gar Militärschläge oder zumindest den sofortigen Aufbau einer „Space Force“. Manche hätten das Artefakt lieber zerstört als eingehend untersucht gesehen. Die Mehrheit der Regierungen sprach sich jedoch für umfassende Untersuchungen und einen Rücktransport der Scheibe auf die Erde aus. Der Mensch war schließlich schon immer ein Pionier gewesen und bei der Entdeckung fremder Kontinente auch nicht auf halbem Weg umgekehrt. Zu den politischen Spannungen trug auch bei, dass immer mehr Staaten Besitzansprüche an der Himmelsscheibe anmeldeten. Nicht nur die EU, deren Weltraumagentur den Sensationsfund gemacht hatte. Sondern auch die USA, da amerikanische Ingenieure das Landegerät entwickelt hatten. Russland, da die Sonde vom Weltraumbahnhof in Baikonur aus ins All gestartet war. China, da die Materialien zur Herstellung von Sonde und Lander größtenteils von dort stammten.

Den internationalen Weltraumagenturen missfiel diese Politisierung des Fundes, sie riefen vielmehr dazu auf, nun alle Kräfte zu bündeln und gemeinsam daran zu arbeiten, der Himmelsscheibe ihre Geheimnisse zu entlocken. Sie betrachteten sie als eine Art archäologisches Fundstück, das außerhalb der Zugriffsrechte einzelner Staaten – quasi auf „internationalen Gewässern“ – gefunden worden war und somit niemandem gehörte. Wenn überhaupt, stand der Fund in seiner Einzigartigkeit und Bedeutung der gesamten Menschheit zu. Diese Auffassung jedenfalls vertraten die meisten Weltraumrechtler, die die Raumfahrtagenturen berieten. Sogar einige Gerichte urteilten dementsprechend. Den politischen Scharmützeln um den wertvollen Fund tat dies jedoch keinen Abbruch. Das nationalstaatliche Schachern um das Artefakt sollte bald als „Alien-Nationalismus“ in die Geschichte eingehen, ein heißer Kandidat für das Unwort des Jahres.

Gegen Ende des Jahres kehrte angesichts mangelnder Perspektiven für eine Lösung des Rätsels langsam wieder so etwas wie ein normaler Alltagstrott zurück. Man hatte sich inzwischen so sehr an die Omnipräsenz der Himmelsscheibe, die täglichen Live-Blogs und Sondersendungen gewöhnt, dass sich sowohl die Faszination und Begeisterung der einen wie auch die Angst, der Protest und die Ablehnung der anderen stark abgenutzt hatten. Das Leben ging weiter ¬– jetzt eben in einem neuen Zeitalter, in dem der Mensch offenbar nicht mehr allein im All war – aber doch erstaunlich unspektakulär, denn man würde wohl nie erfahren, was es mit der Scheibe auf sich hatte. Auch bei der Entschlüsselung der Signale gab es keine Fortschritte.

Doch dann geschah etwas, mit dem niemand gerechnet hatte. An einem Tag Anfang Dezember meldeten Astronomen weltweit plötzlich übereinstimmend, dass der Komet unerwartet seine Bahn verlassen hatte. Nicht nur das, er hatte gar eine Art Hakenschlag vollzogen – wie ein Hase, der vor einem Raubtier flüchtet, nur eben in viel größeren, kosmischen Dimensionen. Eine Beobachtung, die ganz und gar nicht mit den Berechnungen der Flugbahn, geschweige denn mit den physikalischen Gesetzmäßigkeiten zusammenpassen wollte. War der Komet mit irgendetwas kollidiert und aus der Bahn katapultiert worden? Alle Messdaten ließen davon nichts erahnen. Die Wissenschaftswelt musste ratlos und ungläubig mit ansehen, was der Komet noch auf Lager hatte. Denn er beließ es nicht beim einmaligen Hakenschlagen. Er schlug einen regelrechten Zickzack-Kurs ein, als habe er ein Eigenleben entwickelt und wisse noch nicht recht, wohin er wolle. Eines Tages stellten die Astronomen fest, dass er gar stehen geblieben war. Einfach so, mitten im All, als habe ihn jemand an einer unsichtbaren Schnur wie ein gigantisches Mobile zur Zierde dort hingehängt. Wenig später, noch bevor die Fassungslosigkeit über das unerklärliche Verhalten des Himmelskörpers in der aufgescheuchten Wissenschaftscommunity verebbt war, begann der Komet wieder loszurasen, genauso schnell wie zuvor, nur in eine andere Richtung. Es dauerte noch eine Weile, bis die Wissenschaft anhand des jetzt wieder stabilisierten Kurses neue Modellrechnungen über seine Flugbahn erstellt hatte. Und an denen gab es von der ersten Sekunde an keinen Zweifel, denn plötzlich machte alles Sinn. Der Brocken mit seiner außerirdischen Fracht an Bord raste schnurstracks auf die Erde zu.

Der Tag des Einschlags wurde für den 24. Dezember berechnet. Das Schicksal nahm manchmal merkwürdige Pfade. Wer hätte je geahnt, dass ausgerechnet der Weihnachtsstern, das Symbol der Hoffnung und des Neuanfangs, mehr als zweitausend Jahre später als Todesstern über der Erde niedergehen würde? Zyniker könnten diesen seltsamen Zufall gar als eine Art schlechten Scherz des Schicksals interpretieren. Doch dem Universum war das Schicksal egal. Es nahm keine Rücksicht auf Sentimentalitäten.

Paris

Luc, seine Kolleginnen und Kollegen und sein Chef Jean-Paul saßen wieder im Konferenzraum zusammen, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Die Croissants standen auch heute wieder auf dem Tisch und verströmten einen buttrig-süßen Duft, der für Luc aber eher nach Fäulnis roch. Nach der Fäulnis des Todes. Noch war die Hiobsbotschaft in ihren schrecklichen Ausmaßen nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen, sie war zu groß, zu mächtig. Jean-Paul seufzte. „Tja“, sagte er mehr zu sich selbst als zu den anderen Anwesenden im Raum, „es sieht wohl so aus, als hätte sich unsere interstellare Flaschenpost in einen Molotow-Cocktail verwandelt.“

Die Menschheit wusste, dass sie keine Chance hatte. Es gab kein planetares Verteidigungssystem, nichts, was man dem gigantischen Brocken entgegensetzen könnte. Fest stand, dass er groß genug war, alles Leben auf der Erde zu vernichten, wenn nicht schon durch den Einschlag, dann durch die zwangsläufig folgenden Tsunami-Wellen und die Verdunkelung des Himmels, die das Sonnenlicht über Jahrzehnte auslöschen würde. Ideen zur Rettung wie das Zünden von Wasserstoffbomben auf dem Himmelskörper, um ihn von seiner Bahn abzulenken, existierten nur in Science-Fiction-Filmen. Außerdem war dafür viel zu wenig Zeit. Der Komet näherte sich rasend schnell, bald war er das hellste Objekt am Nachthimmel abgesehen vom Mond. Und bald war er sogar am Tage mit bloßem Auge zu erkennen.

Frankfurt

Manuel Ritter starrte die roten Ziffern seines Radioweckers an. 06.02 Uhr. Er saß hellwach im Bett, hatte nicht ein Auge zugetan. Als letzte, klägliche Amtshandlung als Mitglied des Krisenstabs hatte er gemeinsam mit Mathematikern, Physikern und Philologen Botschaften vorbereitet, die Radioteleskope in aller Welt nun in alle Himmelsrichtungen hinaus ins All funkten: „Bitte verschont uns!“, „Wir ergeben uns!“, „HALT! STOPP!“. Oder sogar, in der naiven Hoffnung auf einen gütigen, mächtigen Erlöser, der in letzter Sekunde als Retter auftauchen könnte: „SOS, SOS, die Erde braucht Hilfe, wir werden angegriffen! Bitte, wer immer das hier empfangen kann – helft uns!“ Doch niemand kam. Und er war mit seinem Latein am Ende. Ritter rieb sich die Augen. Draußen heulten die Sirenen pausenlos, der hilflose Versuch der Rettungskräfte, angesichts der drohenden Apokalypse so etwas wie eine öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Wie die Musiker auf der Titanic, die bis zum Untergang weiterspielten. Fast musste Ritter lachen, als er sich plötzlich an einen Satz erinnerte, den er bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem Krisenstab geäußert hatte: „Es könnte gefährlich sein. Woher wissen wir, dass es sich nicht um eine Waffe handelt?“ Er hätte diese Warnung dringlicher aussprechen müssen. Er hätte alles dafür tun müssen, zu verhindern, dieses Ding weiter zu untersuchen. Er hätte dazu raten müssen, es einfach mit dem Kometen davonziehen zu lassen, auf Nimmerwiedersehen. Er, der doch um die Gefahren gewusst hatte! Obwohl er in vielen seiner Szenarien immer wieder zu dem Schluss gelangt war, dass ein Erstkontakt mit Aliens potenziell die Gefahr einer Auslöschung der Menschheit barg, so war er in seinem tiefsten Innern doch immer davon überzeugt gewesen, dass eine außerirdische Intelligenz bestimmt gut war. Gütig, friedlich. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es eine im Wesenskern böse Spezies technisch so weit bringen würde, interstellare Entfernungen zu überwinden und Kontakt mit anderen Welten aufzunehmen, ohne sich zuvor selbst zu zerstören. Die Darstellung von aggressiven, mordlustigen Aliens in den meisten Science-Fiction-Filmen hatte ihn sogar immer ziemlich geärgert. Jetzt wurde ihm klar, dass er sich vom eigenen Wunschdenken hatte leiten lassen. Wie naiv er doch gewesen war! Ritter lachte jetzt wirklich, erst war es ein Kichern, dann ein schallendes Lachen, in das sich Tränen der Verzweiflung mischten, und bald war es nur noch ein Schluchzen. Er hätte so viel mehr reisen, von der Welt sehen müssen. Immer hatte er sich in seiner Forschung vergraben, von fernen Welten geträumt und sich nie sonderlich um die Erkundung seiner eigenen geschert. Vielleicht hätte er doch heiraten sollen. Einmal hatte er die Chance dazu gehabt, doch er hatte einen Rückzieher gemacht. Vielleicht wäre Carla doch die Richtige gewesen. Er hätte mit ihr die Welt bereisen können und wäre jetzt nicht allein. Was Carla jetzt bloß machte? Wo sie den Lebensabend der gesamten Menschheit wohl verbrachte?

An dem Tag, an dem der Papst eine große Fernsehansprache hielt, die in allen Sprachen übertragen wurde, stürzte die Welt endgültig ins Chaos. „Wieder einmal hat die Wissenschaft die teuflische Büchse der Pandora geöffnet und Kräfte entfesselt, die im Verborgenen bleiben sollten“, schwor der Papst die Menschheit auf den Tag des Jüngsten Gerichts ein. „Ich rufe alle Christen, nein, alle Völker dieser Erde auf, gemeinsam um Vergebung zu bitten, denn jetzt bleibt uns nichts weiter als das Gebet. Herr, vergib uns unsere Sünden! Erlöse uns von dem Bösen! Und schütze Deine Kinder vor der Vernichtung durch eine teuflische Macht.“ Kurz nach der Ansprache fielen Fernsehübertragung, Telefon und Internet endgültig aus, die öffentliche Ordnung brach zusammen.

Die Aussichtslosigkeit der Lage hielt manche Nationen nicht von verzweifeltem Aktionismus ab. Eine Atommacht zündete eine Langstrecken-Atomrakete in Richtung Komet, die natürlich nie für den Einsatz außerhalb der Erdatmosphäre erprobt worden war. Die Bombe stürzte zurück auf die Erde und machte mehrere Kleinstädte dem Erdboden gleich, weite Landesteile wurden verstrahlt.

Nicht lang vor Heilig Abend begann der Komet leicht von seiner zerstörerischen Bahn Richtung Erde abzuweichen. Das fiel den meisten natürlich zunächst nicht auf, und da die gängigen Kommunikationswege mittlerweile zusammengebrochen waren, gab es keine Möglichkeit mehr, die Massen zu erreichen. Wissenschaftler der Weltraumbehörden jedoch begannen, vorsichtig Hoffnung zu schöpfen, denn der Schlenker, den der Komet einschlug, wurde immer großzügiger. Bald wurde aus der Hoffnung Gewissheit: Der Brocken würde die Erde in sicherem Abstand verfehlen! Eilig war man darum bemüht, Kommunikationswege wiederherzustellen, um die Kunde in die Welt hinauszurufen – eine neue frohe Weihnachtsbotschaft sozusagen. Es dauerte ein paar Tage, bis sich die Absage der Apokalypse überall herumgesprochen hatte. Doch dann gab es kein Halten mehr. Allerorten lagen Menschen sich weinend vor Erleichterung in den Armen. Herkunft, Nationalität, Religion, Geschlecht und Alter spielten für einen kurzen Moment der Freude überhaupt keine Rolle mehr.

Die Menschheit spürte vielleicht zum allerersten Mal eine Art von Zusammenhalt, die sie bislang immer davon abgehalten hatte, über sich hinaus zu wachsen. Sie spürte, dass alle Unterschiede und Spaltungen, die zwischen den Menschen standen, im Grunde gar keine waren. Jetzt spürten die Menschen erstmals, dass sie alle gemeinsam in einem Boot saßen. Sie alle rasten auf einem winzigen, zerbrechlichen blauen Planeten durch ein unbarmherziges Universum, deren Kräften und Geheimnissen sie alle hilflos ausgeliefert waren. Es war natürlich fraglich, wie lange dieses neu entdeckte Hochgefühl der Zusammengehörigkeit anhalten würde. Aber in dem Moment der Freude dachte darüber niemand nach. Es gab wieder ein Morgen, das war alles, was zählte. Die Menschen hörten gar nicht mehr auf, einander zu umarmen. Darunter waren auch Manuel Ritter und sein alter Kommilitone Hannes Schüler, Luc und sein Chef Jean-Paul, die Außenministerin und der Generaldirektor. Trotz aller Zerstörungen und Verluste, die es durch den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und missglückte Kriegsmanöver gegeben hatte, schien es plötzlich so, als habe es noch nie einen glücklicheren Tag in der Geschichte der Menschheit gegeben. Vielleicht hatte sie erst an die Kante des Abgrunds treten und in den tiefen, hässlichen Schlund hineinblicken müssen, um das zu erkennen.

Sibirien

In all dem Chaos und Freudentaumel völlig unbemerkt ging über der russischen Tundra ein kleiner Meteorit nieder. Tiefrot glühend sauste die Himmelsscheibe durch die Erdatmosphäre und schlug donnernd im Permafrostboden ein. Unversehrt und ohne einen einzigen Kratzer lag die Scheibe in dem entstandenen Krater und begann sofort, sich mit ihren Wurzeln mit ihrer neuen Umgebung zu verbinden. Die Erde hatte sich einen außerirdischen Parasiten eingefangen, den seine Erschaffer vor vielen tausenden Jahren als Flaschenpost auf einem steinigen Wirt auf die Reise durch die Unendlichkeit geschickt hatten. Jetzt hatte der Parasit seinen alten Wirt abgestreift und sich einen neuen gesucht. Was genau er mit ihm vorhatte, wusste nur der Parasit selbst. Noch immer sandte die Himmelsscheibe Signale aus, es war also nur eine Frage der Zeit, bis die Menschen sie entdecken würden.

Irgendwann, wenn wieder so etwas wie Ordnung und ein Alltag eingekehrt war. Noch war es nicht so weit. Noch waren die Menschen zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Als wäre die Menschheit aus einem kollektiven Albtraum erwacht, begannen überall auf der Welt beschwingt die Aufräumarbeiten. Trotz des tiefen Traumas machte sich eine fast schon hysterische Euphorie breit, im festen Glauben daran, dieses Kapitel nun ein für alle Mal abgeschlossen zu haben. Noch ahnte niemand, dass das neue Kapitel der Menschheit gerade erst begonnen hatte.

Copyright: Meike Mittmeyer-Riehl 2021

Veröffentlicht von Meike Mittmeyer-Riehl

Mein Name ist Meike, ich bin Anfang 30 und komme aus Südhessen. Ich bin Journalistin und arbeite derzeit halbtags als Pressesprecherin einer Kommune und nebenher freiberuflich für die Zeitungen im VRM-Verlag. Ich liebe es, durch die Welt zu reisen, Neues zu entdecken, in Pfützen zu springen, stundenlang in die Sterne zu schauen, bei Rockkonzerten laut mitzusingen und meine Katze zu streicheln.

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