Das Auge

Sie nannten diesen Ort „Das Auge“. Zum einen, weil die Form der kleinen, dick gepanzerten Fensterscheibe, nicht viel größer als das Bullauge eines gewöhnlichen Schiffs, tatsächlich der Form eines menschlichen Sehorgans nachempfunden war. Zum anderen aber auch deshalb, weil diese kleine Fensterscheibe die einzige optische Verbindung zur Außenwelt war, die es hier oben gab. Oder hier unten? Oder hier drüben? Es war schwer, genaue Positionsangaben zu machen oder gar von Himmelsrichtungen zu sprechen, wenn man sich längst weit jenseits des Himmels befand, im luftleeren Raum schwebend, und sich mit jeder Sekunde weiter von dem entfernte, was früher, nach irdischen Maßstäben, einmal „dort unten“ gewesen war.

Genre: Fantasy/Sci-Fi
Verfasst: Februar 2019

„Das Auge“ war im hinteren Teil des Raumschiffs in einem Aussichtsmodul untergebracht, um den Astronauten möglichst lange den Blick zurück zu ermöglichen, den Blick zurück auf ihren alten Planeten, ihre alte Heimat, ihr altes Leben. Lily fand das etwas befremdlich bei einer Mission, die zu neuen Horizonten aufbrach, zu einem neuen Planeten, einem neuen Leben. Sie war nie jemand gewesen, der gern zurückschaute. Dennoch verbrachte sie jetzt viel Zeit im „Auge“. Vielleicht hatte sie die Erde erst verlassen müssen, um zu lernen, wie das ging: zurückschauen.

Anfangs, kurz nach ihrem Start, war die Erde riesengroß gewesen. So groß, dass sie gar nicht komplett in den schmalen Ausschnitt des Fensters hineinpasste. Lily erkannte Städte, Länder, Kontinente, viele Orte, an denen sie gewesen war. Die rote Namib-Wüste. Die hohen Berge der Anden. New York. Bald schon schmiegte sich die Erde perfekt ins „Auge“ hinein, wirkte wie seine Iris, eine umwerfend schöne blau-grün-braune Augenfarbe mit weißen und grauen Sprenkeln, ein beinahe hypnotischer Anblick.

Wenig später war die Erde nur noch tennisballgroß, Lily hatte den Eindruck, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um nach ihr zu greifen. Manchmal umschloss sie die zarte blaue Kugel mit den Händen und bildete sich ein, sie wirklich anfassen zu können, sie war zart und weich und verletzlich. Fast so, als könne sie sie mit nur einer einzigen mühelosen Bewegung zwischen den Handflächen zerquetschen. Bald schon war die Erde so klein, dass Lily sie mit ihrem Daumennagel abdecken konnte. Und wenn „das Auge“ die Erde erst einmal aus dem Blick verloren hatte, dann würde damit auch Lilys bisheriges Leben ausgelöscht.

Das war für sie eine ziemlich reizvolle Vorstellung gewesen, als sie sich vor zwei Jahren für das Programm beworben hatte – die irrwitzige Mission eines privaten Raumfahrtunternehmens, das eine Crew von 15 Menschen als Pioniere auf den Mars schicken wollte. Ohne Rückfahrkarte. Für sie, die Getriebene, war dieser Schritt die einzige logische Konsequenz, die einzige Art von Flucht nach vorn, die ihr noch geblieben war. Sie war schon immer davongelaufen. Manchmal, weil es wirklich etwas zum Davonlaufen gab, einen handfesten Grund. Manchmal aber auch einfach nur um des Davonlaufens willen. Um nicht stillzustehen. Um sich nicht umdrehen und zurückschauen zu müssen.

Sie hatte die ganze Welt bereist und auf allen Kontinenten eine Weile lang gelebt. So etwas wie eine Heimat hatte sie dabei nie gefunden. Oder nicht finden wollen. Denn immer, wenn sie begann, sich an einen Ort zu gewöhnen, sich vielleicht sogar ein bisschen wohlzufühlen, wurde dieses Gefühl von einem anderen, viel stärkeren und mächtigeren übertrumpft. Es legte sich um ihre Kehle wie ein zu eng gebundener Schal, der sich mit jedem Tag ein paar Zentimeter weiter zuzog. Es war stets das unmissverständliche Zeichen dafür, fortgehen zu müssen. Weiter, weiter. Ohne zurückzuschauen.

Sie ärgerte sich regelrecht darüber, dass „Das Auge“ sie nun dazu zwang. Warum hatten die Ingenieure das Aussichtsfenster nicht an der anderen Seite des Raumschiffs anbringen können, um einen ungehinderten Blick zu ermöglichen auf das, was kam, und nicht zurück auf das, was einmal gewesen war? Zu retten war die Erde ohnehin nicht mehr. Sie hing im luftleeren Raum wie ein verblassendes Gemälde, das jemand dort vergessen hatte. Nicht viel mehr als eine Erinnerung, vielleicht sogar nur ein Traum, den man nicht eindeutig von einer Erinnerung unterscheiden konnte. Lily konnte die Augen nicht von dieser kleiner werdenden Kugel lassen, auch wenn sie wusste, dass es ihr nicht gut tat, im „Auge“ zu schweben und hinunterzublicken auf das, was ihr früher einmal unendlich groß erschienen war.

Früher hatte sie immer geglaubt, dass es unendlich viele Wege gab, die man gehen, unendlich viele Möglichkeiten, die man ergreifen konnte, und dass es unendlich viele verschiedene Versionen dieses Menschen gab, den man „ich“ nannte, ohne sich auf eine davon festlegen zu müssen. Doch das stimmte nicht. Die Erde war winzig und begrenzt. Es gab Wege, die man niemals gehen, Möglichkeiten, die man niemals ergreifen würde, und man musste mit dieser einen Version des Menschen leben, der man bereits geworden war. Das galt sowohl „dort unten“ als auch „hier oben“. Vor dieser Gewissheit konnte sie nicht davonlaufen.

Diese Erkenntnis reifte mehr und mehr in ihr, wann immer sie sich im „Auge“ aufhielt. Doch erst am 199. Tag ihrer Reise schien sie auch in ihr Bewusstsein vorzudringen. Tatsächlich traf die Erkenntnis sie mit solch einer Wucht, dass sie sogar eine Erschütterung zu spüren glaubte. Lily war gerade dabei, mit einem ihrer Crew-Kameraden ein wissenschaftliches Experiment vorzubereiten. Sie ließ die sensiblen Messinstrumente einfach fallen (was in der Schwerelosigkeit glücklicherweise keine schlimmen Konsequenzen nach sich zog) und schwebte mit heftig klopfendem Herzen durch die engen Gänge des Raumschiffs. In ihrer Panik riss sie dabei sogar einige Kabel aus den Wänden. In der Schwerelosigkeit reichte schon eine kleine unkontrollierte Bewegung, um heftig ins Taumeln zu geraten.

Doch sie fing sich wieder, stieß sich an einer Kante den Kopf, missachtete den Schmerz und schwebte weiter, die irritierten und sorgenvollen Blicke ihrer Crew-Kollegen ignorierend. Flüchtig hörte sie einen von ihnen raunen: „Die Ärzte haben gesagt, dass das irgendwann passieren würde. Heimweh.“ Lily schlüpfte ins Aussichtsmodul und presste ihre Stirn so fest gegen die kleine, dick gepanzerte Fensterscheibe, dass es wehtat. Hektisch suchte sie die Schwärze draußen nach einem Schimmer von Blau ab, wenigstens einem Hauch, einem blauen Stecknadelkopf.

Sie blinzelte ungeduldig, um die Störbilder des grellen Lichts aus dem Flur von ihrer Netzhaut zu vertreiben, während ihr am Rande der Verzweiflung ein fürchterlicher Gedanke kam: Vielleicht konnten Menschen außerhalb der Sichtweite der Erde gar nicht überleben. Noch nie waren Menschen so weit hinaus ins All gedrungen, nie hatten sie diesen kleinen, blauen, verletzlichen Planeten vollständig aus dem Blickfeld verloren. Vielleicht konnte jenseits davon niemand existieren? Vielleicht gab es ohne Blick zurück, ohne Vergangenheit, ohne Gestern, überhaupt keine neue Zukunft, kein Morgen?

Und sie dachte darüber nach, ob eine Heimat mit begrenzten Wegen und Möglichkeiten, die nicht mehr zu retten war, nicht doch besser gewesen wäre als gar keine? Lily wischte die von ihrem Atem schon ganz beschlagene Scheibe zitternd mit dem Ärmel sauber und wartete darauf, dass die Erde doch noch auftauchte, irgendwo, während sich etwas um ihre Kehle legte, das sich anfühlte wie ein zu enger Schal. Doch „Das Auge“ starrte in kaltes, undurchdringliches Nichts.

Copyright: Meike Mittmeyer-Riehl, 2019
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Beitragsfoto: Richard Gatley on Unsplash

Veröffentlicht von Meike Mittmeyer-Riehl

Mein Name ist Meike, ich bin Anfang 30 und komme aus Südhessen. Ich bin Journalistin und arbeite derzeit halbtags als Pressesprecherin einer Kommune und nebenher freiberuflich für die Zeitungen im VRM-Verlag. Ich liebe es, durch die Welt zu reisen, Neues zu entdecken, in Pfützen zu springen, stundenlang in die Sterne zu schauen, bei Rockkonzerten laut mitzusingen und meine Katze zu streicheln.

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