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Das Donnern der Stille

Der „Journey behind the Falls“ führt Besucher fast bis hinunter an den Fuß des Horseshoe-Falls, wo sich die Wucht des Wassers hautnah erleben lässt.

Die Niagarafälle an der Grenze zwischen den USA und Kanada sind schon von oben betrachtet atemberaubend. Doch wer die wahre Wucht des Wassers nicht nur sehen, sondern auch hören und spüren möchte, sollte einen Ausflug hinter die mächtigen „Horseshoe-Falls“ in Ontario nicht verpassen.

Es ist laut, feucht und zu warm in dem Wartebereich vor den Aufzügen, der ein bisschen an eine Hotel-Lobby erinnert. Mitarbeiter teilen Regen-Ponchos aus dünnem Plastik aus, die unseren gelben Säcken ähneln, Besucher plappern in dutzenden unterschiedlichen Sprachen wild durcheinander. Noch ist es in diesem Touristen-Chaos kaum vorstellbar, dass wenige Meter von uns entfernt rund drei Millionen Liter Wasser pro Sekunde 54 Meter grollend in die Tiefe stürzen. Nicht ganz so schnell und nicht ganz so weit katapultiert uns ein Aufzug nach unten. Hier, etwa 40 Meter unter dem Welcome Center, in dem wir die Tickets gekauft haben, wurden einige schmale Gänge ins Gestein geschlagen, um Besuchern im wahrsten Sinne des Wortes einige Fenster zu den Wassermassen zu öffnen.

Als sich die Türen des Fahrstuhls aufschieben, verstummt jäh das Stimmengewirr, wird verschluckt von einem allumfassenden Rauschen, das so markdurchdringend ist, dass sogar der Boden ein wenige zu vibrieren scheint. Ein Donnern der Stille, das alles durchdringt und auf die Ohren drückt. Dabei sind die 675 Meter breiten „Horseshoe-Falls“ – die größten und auch beeindruckendsten von insgesamt drei Wasserfällen an der Grenze zwischen den USA und Kanada – noch gar nicht zu sehen. Wir nähern uns ihnen wie einem brüllenden, aber unsichtbaren Riesen. Das hat etwas Unheimliches: Man weiß, dass er da ist, man spürt seine Anwesenheit, aber er hält sich noch bedeckt.

Der dunkle, glitschige Gang führt uns zunächst zu zwei kleinen Aussichtsfenstern, an denen eine undurchdringliche Wasserwand vorbeirauscht. Doch sie ist nicht monoton wie ein vor sich hin plätschernder Landregen, sondern variiert schwallartig in ihrer Intensität. Der Wasserfall scheint zu pulsieren, zu leben. Mal prasselt es, mal plätschert es, mal klatscht es; dabei immer untermalt von dem tiefen Grollen der Massen, von denen wir hier zunächst nur ein winziges Mosaiksteinchen zu sehen bekommen. Akustisch eindrucksvoll, aber rein optisch beinahe ein wenig enttäuschend, denn die Ausmaße des Wasserfalls erschließen sich einem definitiv noch nicht.

„Das Wunder von Niagara“

Viel Zeit zum Dastehen und Lauschen haben wir aber ohnehin nicht, denn die Besuchermassen drängen weiter, jeder hat nur ein paar Sekunden vor dem Guckloch, damit sich die Wartezeiten in Grenzen halten. Das reicht gerade aus für ein paar feine Gischt-Tröpfchen auf der Brille und einen Schnappschuss. Während sich die in Gelb gehüllte Menschenschlange weiterbewegt, erzählen die Wände der Gänge in Form von Infotafeln einige interessante Geschichten über die wohl berühmtesten Wasserfälle der Welt, zum Beispiel über das „Wunder von Niagara“: Im Jahr 1960 stürzte ein damals sieben Jahre alter Junge namens Roger Woodward nur mit einer Rettungsweste bekleidet die „Horseshoe-Falls“ hinab fast 60 Meter in die Tiefe und überlebte nahezu unverletzt. Er war zumindest der erste dokumentierte Überlebende dieser Wasserhölle. Etliche andere haben den Versuch – teils auch bei waghalsigen Experimenten, etwa in einem Fass in die Tiefe zu rauschen – mit ihrem Leben bezahlt.

Am dritten und letzten Aussichtspunkt kommt der Riese endlich grollend und mit voller Wucht aus seinem Versteck: Der Gang mündet in eine zweigeschossige Aussichtsplattform fast am Fuße des Wasserfalls, und erst hier machen sich auch die Plastik-Ponchos bezahlt. Eiskalter Sprühnebel schlägt uns entgegen (an diesem heißen Augusttag eine willkommene Erfrischung) und die Wassermassen erheben sich über uns wie ein flüssig gewordener Wolkenkratzer. Das je nach Sonneneinfall mal grau, mal türkis, mal tiefblau leuchtende Wasser flimmert hinter der dichten Schicht aus Gischt und Nebel und sieht unwirklich aus, fast als würde es in Zeitlupe in den Niagara-Fluss stürzen. Von dort aus tritt das Wasser seine Reise in den Lake Ontario an, einen der fünf „Great Lakes“ (großen Seen) in der Grenzregion zwischen den USA und Kanada.

Auf der zweistöckigen Aussichtsplattform wird man definitiv etwas nass. Foto: Meike Mittmeyer-Riehl

Entstehung nach der letzten Eiszeit

Diese besondere geografische Lage hat den Niagarafällen vor rund 12.000 Jahren überhaupt erst ihre Entstehung ermöglicht: Am Ende der letzten Eiszeit schmolzen die dortigen Gletscher. Der Erie-See (heute USA) lief über, das Wasser bildete einen gewaltigen Strom, den Niagara River, der sich seinen Weg in den Ontario-See bahnte und auf dem Weg dorthin über die mächtigen Klippen der Niagara-Schichtstufe stürzte. Die Wasserfälle waren geboren und verändern ihr Gesicht seither stetig, wenn auch für uns kaum bemerkbar: Durch Abrieb des Gesteins wandern sie etwa vier Zentimeter pro Jahr in Richtung Erie-See. Seitdem das Wasser des Flusses auch für die Energiegewinnung genutzt wird, hat sich der Abrieb allerdings deutlich verringert, ohne den Wasserfällen ihre raue, wilde Schönheit zu nehmen. Übrigens kann man das erste, historische Wasserkraftwerk von 1905 auch besichtigen (Niagara Parks Power Station, 7005 Niagara Parkway, Ontario).

Leicht durchnässt und überwältigt treten wir die kurze Rückreise per Fahrstuhl an. Ein idealer Spaziergang zum Trocknen in der Sonne ist der Fallsview Trail immer am Fluss entlang. Auf dem Weg in Richtung Rainbow Bridge – das ist die „Grenzbrücke“ zwischen den USA und Kanada – gibt es viele herrliche Aussichtspunkte, die keinen Eintritt kosten. Wir entfernen uns immer weiter vom tosenden Riesen. Von hier oben sieht er wieder ganz friedlich aus.

Text und Fotos: Meike Mittmeyer-Riehl, 2022

Von oben sind die Horseshoe-Falls malerisch, und erst hier zeigt sich, woher er seinen Namen hat: Er ist wie ein Hufeisen geformt. Foto: Meike Mittmeyer-Riehl
Von der amerikanischen Seite aus mit Blick nach Kanada sind die Wasserfälle nicht ganz so spektakulär, aber ebenfalls sehenswert. Foto: Meike Mittmeyer-Riehl

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Veröffentlicht von Meike Mittmeyer-Riehl

Mein Name ist Meike, ich bin Anfang 30 und komme aus Südhessen. Ich bin Journalistin und arbeite derzeit halbtags als Pressesprecherin einer Kommune und nebenher freiberuflich für die Zeitungen im VRM-Verlag. Ich liebe es, durch die Welt zu reisen, Neues zu entdecken, in Pfützen zu springen, stundenlang in die Sterne zu schauen, bei Rockkonzerten laut mitzusingen und meine Katze zu streicheln.

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