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Hervorgehoben

Was dieser Blog will

Ich schreibe, seitdem ich denken kann. Oder denke, seitdem ich schreiben kann? Wie auch immer es sein mag, eines tue ich mit Gewissheit viel zu selten: Das Geschriebene auch veröffentlichen. Das ist mir bislang nur mit einem Bruchteil dessen gelungen, was ich zu Papier (bzw. zu PC) gebracht habe. Warum? Gar nicht so leicht zu beantworten. Vielleicht, weil ich mit dem Endresultat nie so zufrieden bin wie ich es gern wäre. Vielleicht auch, weil alles, was man schreibt, tiefe Einblicke in die eigene Seele zulässt. Und zwar von Wildfremden. Das kann eine ganz schön gruselige Vorstellung sein.

Dabei sollte es mir als Journalistin eigentlich leicht fallen, das, was ich schreibe, auch zu veröffentlichen. Als ich noch als Jung-Redakteurin bei einer Tageszeitung gearbeitet habe, gab es für zu viel Perfektionismus gar keine Zeit. Der Text musste bis Redaktionisschluss fertig werden, basta. Und dann kam er eben so ins Blatt, wie er war, auch wenn man nicht 100 Prozent zufrieden damit war. Und wisst ihr was? Am Ende war ich ganz schön oft eigentlich doch ziemlich zufrieden mit dem Endprodukt. Im Nachhinein – nach der Veröffentlichung.

Ich möchte, dass mir das nun auch mit meinen persönlichen, nicht-journalistischen Texten gelingt. Ich arbeite derzeit an einigen Texten, die ich gern mit der Welt teilen möchte (auch wenn die Welt mit Sicherheit nicht auf sie gewartet hat). Aber das werde ich vermutlich nie schaffen, wenn ich nicht jetzt damit anfange, das Veröffentlichen zu üben. Es zu lernen wie eine neue Sprache. Mit Texten, die in Schubladen oder auf alten PC-Festplatten teilweise seit Jahren vor sich herumgammeln und die ich nun nach und nach online stellen werde. Mit diesem Blog möchte ich die unsichtbare, aber schier unüberwindbare Mauer zwischen mir und der Veröffentlichung überwinden. So, als wäre dieser Blog ein ungeduldiger Ressortleiter, der schreit: „Wir brauchen den Text. JETZT!“ (Ich hatte im Übrigen nie in Wirklichkeit ungeduldige Ressortleiter, die geschrien haben, sondern immer sehr nette.)

Die Texte, die sich auf dieser Seite finden, sind zum Teil schon viele Jahre alt. Dort, wo es mir wichtig war, dies zu erwähnen, habe ich es entsprechend markiert, denn ich finde, das ist sehr wichtig für den Kontext. Wenn ihr mit dem Lesen überhaupt bis hier unten gekommen seid, möchte ich euch beglückwünschen. Das hätte ich bei so viel Blödsinn vermutlich nicht geschafft. Danke – und viel Spaß! Hinterlasst mir gerne einen Kommentar, wie ihr das so mit dem Veröffentlichen macht. Fällt es euch leicht oder nicht?

Das Donnern der Stille

Die Niagarafälle an der Grenze zwischen den USA und Kanada sind schon von oben betrachtet atemberaubend. Doch wer die wahre Wucht des Wassers nicht nur sehen, sondern auch hören und spüren möchte, sollte einen Ausflug hinter die mächtigen „Horseshoe-Falls“ in Ontario nicht verpassen.

Es ist laut, feucht und zu warm in dem Wartebereich vor den Aufzügen, der ein bisschen an eine Hotel-Lobby erinnert. Mitarbeiter teilen Regen-Ponchos aus dünnem Plastik aus, die unseren gelben Säcken ähneln, Besucher plappern in dutzenden unterschiedlichen Sprachen wild durcheinander. Noch ist es in diesem Touristen-Chaos kaum vorstellbar, dass wenige Meter von uns entfernt rund drei Millionen Liter Wasser pro Sekunde 54 Meter grollend in die Tiefe stürzen. Nicht ganz so schnell und nicht ganz so weit katapultiert uns ein Aufzug nach unten. Hier, etwa 40 Meter unter dem Welcome Center, in dem wir die Tickets gekauft haben, wurden einige schmale Gänge ins Gestein geschlagen, um Besuchern im wahrsten Sinne des Wortes einige Fenster zu den Wassermassen zu öffnen.

Als sich die Türen des Fahrstuhls aufschieben, verstummt jäh das Stimmengewirr, wird verschluckt von einem allumfassenden Rauschen, das so markdurchdringend ist, dass sogar der Boden ein wenige zu vibrieren scheint. Ein Donnern der Stille, das alles durchdringt und auf die Ohren drückt. Dabei sind die 675 Meter breiten „Horseshoe-Falls“ – die größten und auch beeindruckendsten von insgesamt drei Wasserfällen an der Grenze zwischen den USA und Kanada – noch gar nicht zu sehen. Wir nähern uns ihnen wie einem brüllenden, aber unsichtbaren Riesen. Das hat etwas Unheimliches: Man weiß, dass er da ist, man spürt seine Anwesenheit, aber er hält sich noch bedeckt.

Der dunkle, glitschige Gang führt uns zunächst zu zwei kleinen Aussichtsfenstern, an denen eine undurchdringliche Wasserwand vorbeirauscht. Doch sie ist nicht monoton wie ein vor sich hin plätschernder Landregen, sondern variiert schwallartig in ihrer Intensität. Der Wasserfall scheint zu pulsieren, zu leben. Mal prasselt es, mal plätschert es, mal klatscht es; dabei immer untermalt von dem tiefen Grollen der Massen, von denen wir hier zunächst nur ein winziges Mosaiksteinchen zu sehen bekommen. Akustisch eindrucksvoll, aber rein optisch beinahe ein wenig enttäuschend, denn die Ausmaße des Wasserfalls erschließen sich einem definitiv noch nicht.

„Das Wunder von Niagara“

Viel Zeit zum Dastehen und Lauschen haben wir aber ohnehin nicht, denn die Besuchermassen drängen weiter, jeder hat nur ein paar Sekunden vor dem Guckloch, damit sich die Wartezeiten in Grenzen halten. Das reicht gerade aus für ein paar feine Gischt-Tröpfchen auf der Brille und einen Schnappschuss. Während sich die in Gelb gehüllte Menschenschlange weiterbewegt, erzählen die Wände der Gänge in Form von Infotafeln einige interessante Geschichten über die wohl berühmtesten Wasserfälle der Welt, zum Beispiel über das „Wunder von Niagara“: Im Jahr 1960 stürzte ein damals sieben Jahre alter Junge namens Roger Woodward nur mit einer Rettungsweste bekleidet die „Horseshoe-Falls“ hinab fast 60 Meter in die Tiefe und überlebte nahezu unverletzt. Er war zumindest der erste dokumentierte Überlebende dieser Wasserhölle. Etliche andere haben den Versuch – teils auch bei waghalsigen Experimenten, etwa in einem Fass in die Tiefe zu rauschen – mit ihrem Leben bezahlt.

Am dritten und letzten Aussichtspunkt kommt der Riese endlich grollend und mit voller Wucht aus seinem Versteck: Der Gang mündet in eine zweigeschossige Aussichtsplattform fast am Fuße des Wasserfalls, und erst hier machen sich auch die Plastik-Ponchos bezahlt. Eiskalter Sprühnebel schlägt uns entgegen (an diesem heißen Augusttag eine willkommene Erfrischung) und die Wassermassen erheben sich über uns wie ein flüssig gewordener Wolkenkratzer. Das je nach Sonneneinfall mal grau, mal türkis, mal tiefblau leuchtende Wasser flimmert hinter der dichten Schicht aus Gischt und Nebel und sieht unwirklich aus, fast als würde es in Zeitlupe in den Niagara-Fluss stürzen. Von dort aus tritt das Wasser seine Reise in den Lake Ontario an, einen der fünf „Great Lakes“ (großen Seen) in der Grenzregion zwischen den USA und Kanada.

Auf der zweistöckigen Aussichtsplattform wird man definitiv etwas nass. Foto: Meike Mittmeyer-Riehl

Entstehung nach der letzten Eiszeit

Diese besondere geografische Lage hat den Niagarafällen vor rund 12.000 Jahren überhaupt erst ihre Entstehung ermöglicht: Am Ende der letzten Eiszeit schmolzen die dortigen Gletscher. Der Erie-See (heute USA) lief über, das Wasser bildete einen gewaltigen Strom, den Niagara River, der sich seinen Weg in den Ontario-See bahnte und auf dem Weg dorthin über die mächtigen Klippen der Niagara-Schichtstufe stürzte. Die Wasserfälle waren geboren und verändern ihr Gesicht seither stetig, wenn auch für uns kaum bemerkbar: Durch Abrieb des Gesteins wandern sie etwa vier Zentimeter pro Jahr in Richtung Erie-See. Seitdem das Wasser des Flusses auch für die Energiegewinnung genutzt wird, hat sich der Abrieb allerdings deutlich verringert, ohne den Wasserfällen ihre raue, wilde Schönheit zu nehmen. Übrigens kann man das erste, historische Wasserkraftwerk von 1905 auch besichtigen (Niagara Parks Power Station, 7005 Niagara Parkway, Ontario).

Leicht durchnässt und überwältigt treten wir die kurze Rückreise per Fahrstuhl an. Ein idealer Spaziergang zum Trocknen in der Sonne ist der Fallsview Trail immer am Fluss entlang. Auf dem Weg in Richtung Rainbow Bridge – das ist die „Grenzbrücke“ zwischen den USA und Kanada – gibt es viele herrliche Aussichtspunkte, die keinen Eintritt kosten. Wir entfernen uns immer weiter vom tosenden Riesen. Von hier oben sieht er wieder ganz friedlich aus.

Text und Fotos: Meike Mittmeyer-Riehl, 2022

Von oben sind die Horseshoe-Falls malerisch, und erst hier zeigt sich, woher er seinen Namen hat: Er ist wie ein Hufeisen geformt. Foto: Meike Mittmeyer-Riehl
Von der amerikanischen Seite aus mit Blick nach Kanada sind die Wasserfälle nicht ganz so spektakulär, aber ebenfalls sehenswert. Foto: Meike Mittmeyer-Riehl

Mikro-Science-Fiction

Ich habe vor Kurzem ein neues Genre entdeckt, das ich spannend finde und einfach mal ausprobieren wollte: Mikro-Science-Fiction. Dabei geht es darum, eine winzige, kompakte Science-Fiction-Geschichte mit nur 500 Zeichen zu schreiben. Das sind nicht viel mehr als drei, vier kurze Sätze. Eine echte Herausforderung, die aber richtig viel Spaß macht, denn man beschränkt sich aufs Wesentliche und kommt gleich auf den Punkt. Das sind meine bisherigen Mikro-SF-Geschichten:

Abreise

Lily konnte die Augen nicht von der blauen Kugel abwenden, die im All hing wie ein verblassendes Gemälde. Früher, da unten, hatte sie geglaubt, dass es unendlich viele Wege, Möglichkeiten und Versionen dieses Menschen namens „ich“ gibt, ohne sich je festlegen zu müssen. Erst seitdem sie die Erde verlassen hatte, wusste sie: Es gab Wege, die man niemals gehen, Möglichkeiten, die man niemals ergreifen würde, und man musste mit dieser einen Version „ich“ leben, die man bereits geworden war.

Marslandung

„Houston an Sam: Wie fühlt es sich an, als erste intelligente Spezies den Mars betreten zu haben?“ 20 Minuten war es her, seit dieser Funkspruch die Erde verlassen hatte. Seit 20 Minuten hielten Milliarden Menschen die Luft an. Jede Sekunde musste die Antwort eintreffen. Alle rechneten mit einem legendären Satz wie einst bei der Mondlandung. Ein Rauschen in der Leitung kündigte Sams Signal an: „Nun ja“, sagte er zögerlich. „So ganz stimmt das nicht. Es war schon jemand vor uns da.“

Die Flaschenpost

Paris

„Krisen-Meeting. Morgen früh. 8 Uhr. PÜNKTLICH!“ Seitdem diese Kurznachricht seines Chefs gestern am späten Abend bei ihm eingetroffen war, hatte Luc sich den Kopf darüber zerbrochen, was wohl geschehen sein mochte. Er arbeitete jetzt seit knapp zehn Jahren in der Kommunikationsabteilung der europäischen Weltraumorganisation in der Hauptzentrale in Paris und es hatte in all diesen Jahren noch nie ein Krisen-Meeting seines Teams gegeben. Hatte es eine Fehlfunktion eines Satelliten oder einer Sonde gegeben? Der letzte Start war bereits vor einigen Monaten gewesen und alles war reibungslos verlaufen. War jetzt vielleicht ein Problem aufgetreten? Hatte man den Funkkontakt zu einem Satelliten verloren? Oder war gar einer abgestürzt?

Es hingen hunderte Millionen oder gar Milliarden an den einzelnen Missionen, Raumfahrt war ein teures Geschäft. Der Verlust eines Satelliten würde sicherlich eine Krisen-Sitzung der Kommunikationsabteilung rechtfertigen. Oder war etwas noch Schlimmeres geschehen? War etwa einem ihrer europäischen Astronauten, die gerade auf der ISS forschten, etwas zugestoßen? Gegen diese Theorie sprach jedoch die Tatsache, dass die italienische Astronautin vor nicht einmal 12 Stunden noch eine Reihe Bilder auf Instagram gepostet hatte, die den Ausblick über Australien und das Raumfahrer-Team beim fröhlichen Saltoschlagen gezeigt hatten. Nichts hatte auch nur im Geringsten auf irgendein Problem hingedeutet. Luc schloss für einen Moment die Augen und lauschte dem gleichmäßigen Rattern der U-Bahn, um sein wie wild arbeitendes Gehirn zu beruhigen, das sich immer neue und immer schrecklichere Szenarien ausmalte. Gleich würde er es wissen. Gleich war er da.

Janine, die Teamassistentin, hatte wie jeden Morgen frische Croissants im Konferenzzimmer bereitgestellt. Der herrliche, buttrige Duft versüßte dem Kommunikationsteam immer den Start in den Tag, und auch heute vermittelten die Gebäckstücke ein kleines Stückchen Normalität, auch wenn Luc bei ihrem Anblick vor Aufregung eher übel wurde. „Guten Morgen, Luc“, sagte Janine strahlend, während sie Kaffee in sieben Tassen verteilte, „greif zu!“ Hätte er nur Janine und die Croissants gesehen, dann hätte es wirklich ein ganz normaler Tag sein können. Doch die versteinerten, angespannten Mienen seiner Kolleginnen und Kollegen, die bereits am Konferenztisch saßen, sprachen eine andere Sprache. Luc setzte sich zu ihnen, mühte sich ein gequältes Lächeln in Janines Richtung ab und wartete, bis sie den Raum verlassen hatte. Dann fragte er die anderen: „Wisst ihr irgendwas?“
Seine Kollegin Annette schüttelte den Kopf. Sie war sehr blass. „Es muss aber was Großes sein. Was Internationales. Ich war gestern spät abends noch hier und habe mitbekommen, dass er mehrfach mit den Kommunikationsteams der anderen Raumfahrtorganisationen gesprochen hat: NASA, Roskosmos, ISRO, CNSA, vermutlich waren alle dabei.“ Es vergingen einige quälende Minuten in angespannter Stille.
Luc nahm sich doch ein Croissant, obwohl er nicht den leisesten Hunger verspürte, einfach nur, um etwas zu tun zu haben. Wenig später rauschte ihr Chef Jean-Paul ins Konferenzzimmer und ließ die Tür krachend hinter sich ins Schloss fallen. Er wirkte kurzatmig und gehetzt und sah mit seinen tiefen Augenringen und den wuscheligen Haaren in etwa so übernächtigt aus, wie Luc sich fühlte.

„Also Leute, ich mache es kurz“, sagte Jean-Paul, „heute Morgen seid ihr das letzte Mal in der Welt, wie wir sie kennen, aufgewacht. Ab jetzt ist alles anders.“ Jean-Paul neigte hin und wieder mal zum Pathos, aber diese Sätze klangen selbst für ihn ziemlich übertrieben. Niemand wagte es, etwas zu sagen. Jean-Paul setzte sich nicht und sah keinen seiner Mitarbeiter an. Stattdessen tigerte er unruhig auf und ab wie ein wildes Tier in Gefangenschaft und fuhr fort: „Das, was ich euch jetzt sage, wird diesen Raum nicht verlassen, bis ich euch dazu die Befugnis erteile, verstanden? Es gilt eine absolute Nachrichtensperre. Zumindest so lange, bis wir uns international auf ein gemeinsames Vorgehen verständigt haben. Die Vereinten Nationen und die NATO werden in diesen Minuten über die Lage unterrichtet, es wird dann weitere Abstimmungen geben. Die Presse wird früher oder später Wind davon bekommen und sich auf uns stürzen wie die Hyänen auf ein totes Nashorn. Wir kommentieren nichts, dementieren nichts, bestätigen nichts. Habt ihr das alle verstanden?“

Die sechs Mitarbeiter nickten stumm. Luc knetete das Croissant in seinen Händen, riss ein Stück ab und steckte es sich in den Mund, nur, um sich selbst daran zu hindern, laut auszurufen: „Jetzt sag es doch endlich!!!“
Jean-Paul atmete tief durch und fuhr sich durch das schüttere, wuschelige Haar. Endlich blieb er stehen und blickte in Richtung seiner Mitarbeiter, ohne auch nur einen von ihnen wirklich zu sehen. „Es wurde etwas gefunden. Auf dem Kometen unserer „Comet Catcher“-Mission. Ein Objekt. Oder – eine Nachricht. Beides, vermutlich. So genau steht das noch nicht fest, die Untersuchungen laufen auf Hochtouren. Fest steht allerdings schon jetzt, dass es nicht natürlichen Ursprungs ist. Und definitiv nicht irdischen. Unsere Partneragenturen bestätigen diese Befunde. Sie sind eindeutig.“
Stille. Niemand der sieben Anwesenden schien zu atmen. Schließlich durchbrach Annette die Stille, und ihre Worte dröhnten in den Ohren aller, obwohl sie flüsterte: „Aber Jean-Paul, heißt das etwa, dass-“
„Ja“, unterbrach der Chef sie, „genau das heißt es. Wir haben auf dem Kometen die Flaschenpost einer außerirdischen Intelligenz gefunden.“
Lucs Kinnlade klappte unwillkürlich hinunter und das Stück Croissant fiel ihm aus dem offenen Mund. Niemand nahm Notiz davon.

Frankfurt

Das schrille Läuten seines Festnetz-Telefons riss Manuel Ritter aus dem Tiefschlaf. 06.35 Uhr zeigte sein Radiowecker in grellroten Ziffern an. Niemand, der seine Festnetz-Nummer kannte, störte ihn je zu solch einer für ihn nachtschlafenden Zeit. Er war kein Morgenmensch, das ließ er auch jeden gern spüren, der den schrecklichen Fehler beging, vor 9 Uhr einen Termin oder eine Sitzung mit ihm anzuberaumen. Das Telefon läutete in brutaler Lautstärke weiter. Sieben Mal. Acht Mal. Neun Mal. Dann blieb es still, der Anrufbeantworter war angesprungen. Ritter wälzte sich zufrieden auf die Seite, doch kurz bevor er wieder eingeschlummert war, ließ ihn das schrille Läuten erneut zusammenzucken. Diesmal hob er gefühlt mehrere Zentimeter von der Matratze ab. Was konnte denn um diese Zeit so wichtig sein, Herrgott nochmal? Übellaunig warf er die Bettdecke zurück und tapste auf nackten Füßen in Richtung Flur. Das Telefon schien immer ungeduldiger zu werden und noch schneller und schriller zu läuten, je näher er ihm kam. „Ja, bitte?!“, blaffte er in den Hörer, während er sich mit der anderen Hand den Schlaf aus den Augen rieb.
„Guten Morgen Manuel. Hannes hier. Hannes Schüler, erinnerst du dich? Wir haben zusammen studiert.“
Ritters Laune verschlechterte sich noch weiter, wenn das überhaupt möglich war. Hannes Schüler, natürlich erinnerte er sich an seinen früheren Kommilitonen, mit dem er an der Uni Bayreuth Soziologie studiert und sich eine WG geteilt hatte. Er war schon immer ein arroganter Blender gewesen, ein Politiker durch und durch, der direkt nach der Uni als Abgeordneter in den Landtag eingezogen war, dort aber wider Erwarten nie einen wichtigen Posten ergattert hatte. Danach war er, wenn Ritter sich recht erinnerte, als Berater nach Berlin in ein Ministerium gegangen. Es musste mindestens 15 Jahre her sein, seit sie das letzte Mal Kontakt gehabt hatten.

„Woher hast du meine private Nummer?“, fragte Ritter unfreundlich.
„Hör mal, du forschst doch immer noch in diesem merkwürdigen Gebiet, oder?“, redete Hannes weiter, ohne auf die Frage einzugehen. „Exosoziologie, meine ich. Oder?“
Ritter schnaubte. Früher hatte Hannes keine Gelegenheit ausgelassen, ihn wegen seines außergewöhnlichen Forschungsschwerpunktes, der die gesellschaftlichen Auswirkungen eines Erstkontakts zwischen Menschen und einer außerirdischen Intelligenz zum Inhalt hatte, als „UFO-Spinner“ oder „E.T.-Anhänger“ zu veräppeln. Das hatte ihm an der Uni den endgültigen Status eines Sonderlings eingehandelt – was vor allem bei den Mädchen äußerst schlecht angekommen war. „Ja, allerdings“, antwortete Ritter und es schwang vielleicht eine Spur zu viel gekränkter Stolz in diesen Worten mit.
„Gut, gut, sehr gut“, sagte Hannes und erst jetzt fiel Ritter auf, dass er die ganze Zeit schon ziemlich nervös klang – eine Eigenschaft, die er von seinem früheren Kommilitonen überhaupt nicht kannte. Wenn Hannes eine Kunst zur Perfektion beherrscht hatte, dann die, auch bei absoluter Ahnungslosigkeit selbstsicher, routiniert und gelassen rüberzukommen. Davon war ihm jetzt keine Spur mehr anzuhören, im Gegenteil: Seine Stimme hatte einen beinahe panischen Unterton.
„Du musst sofort nach Berlin kommen, Manuel“, sagte Hannes dann nach einer längeren Pause, „die Bundesregierung benötigt deine Expertise. Ich buche dir einen Flug um 9 Uhr. Mach dich bitte direkt auf den Weg.“

Paris

Lucs Finger schwebten wenige Millimeter über seiner Tastatur und zitterten. Er war gerade im Begriff, die wohl bedeutendste Pressemitteilung in der Geschichte der europäischen Raumfahrt – wenn nicht der gesamten Menschheit! – zu verfassen. Die Nachricht würde einschlagen wie eine Bombe, es würde vielleicht zu Massenpaniken kommen. Wer wusste das schon so genau, denn man hatte Szenarien wie dieses nie real durchgespielt. Die Möglichkeit war einfach immer zu phantastisch erschienen, um je real werden zu können. Das Klingeln des Telefons ließ Luc zusammenzucken, seine Finger tippten dabei unwillkürlich auf die Tastatur und hinterließen auf dem Bildschirm einen Buchstabensalat. Einige Sekunden lang starrte er das Telefon unschlüssig an wie eine Zeitbombe, die jeden Moment explodieren könnte. Dann seufzte er und nahm ab. Es würde nicht der einzige Anruf des Tages bleiben.

„Chéri!“, schrie ihm eine hohe weibliche Stimme ins Ohr. Er hielt den Hörer mehrere Zentimeter von seinem Gehörgang weg. Oh nein, die hatte ihm gerade noch gefehlt. Es war Veronique, eine Reporterin der größten französischen Boulevardzeitung, die hin und wieder in reißerischer Manier über Weltraumthemen berichtete. Meistens, ohne die Behörde dabei sonderlich gut aussehen zu lassen. Er hatte in der Vergangenheit leider den Fehler begangen, einmal mit ihr auszugehen.

„Hör mal zu, Chéri, diese UFO-Spinner drehen derzeit wieder hohl, angeblich empfangen sie Alien-Signale!“, quasselte Veronique los, ohne eine Begrüßung seinerseits abzuwarten. Oh nein. Damit warf ihm die Reporterin gleich noch seinen zweiten großen Fehler um die Ohren, den er während dieses besagten Dates begangen hatte. Er hatte ihr – nach dem Genuss mehrerer Gläser Wein – gestanden, dass er die privaten SETI-Initiativen, die nach Signalen aus dem All lauschten, allesamt für Spinner hielt und nicht an die Existenz von intelligentem Leben außerhalb der Erde glaubte, denn dann wären die Aliens längst hier gewesen. Das hatte eines Tages natürlich wortwörtlich so in dem Klatschblatt gestanden. Luc konnte froh sein, dass Jean-Paul ihn deshalb nicht gefeuert hatte.

„Was sagt ihr denn zu diesen angeblichen Wow-Signalen?“, fuhr Veronique unbarmherzig fort. „In sozialen Netzwerken ist der Teufel los, das Thema trendet überall. Steht uns wirklich eine Invasion der grünen Männchen bevor, hm?“
„Ich kann dir dazu nichts sagen“, antwortete Luc steif.
Veronique schien es für einen Augenblick die Sprache zu verschlagen, was ungewöhnlich für sie war. Dann sagte sie: „Oh, also ist es wahr? Okay, das, ähm, ist ziemlich unerwartet.“
„Ich habe lediglich gesagt, dass ich dazu keine Angaben machen kann“, sagte Luc, wusste aber längst, dass er verloren hatte. Die reißerische Schlagzeile war bereits geboren, sie würde in wenigen Minuten online stehen und wie ein Lauffeuer um die Welt gehen.
„Woher kommen diese Signale, Luc? Konntet ihr sie schon entschlüsseln? Wann gedenkt ihr, die Öffentlichkeit über solch eine Sensation zu informieren? Oder wollt ihr das etwa geheim halten, die Menschheit im Dunkeln lassen?“ Jetzt sprudelten die Fragen nur so aus Veronique heraus. Luc hatte keine Zeit mehr zu verlieren, er musste eine seriöse Mitteilung verfassen, bevor sich Gerüchte verbreiteten, die vielleicht noch größere Panik verursachten als die Wahrheit.
„Ich lege jetzt auf“, sagte er und wartete keine Antwort mehr ab. Dann schwebten seine Finger wieder wenige Millimeter über der Tastatur. Sie zitterten nicht mehr. Entschlossen begann er zu tippen. Das schrille Klingeln seines Telefons, das den ganzen Tag über nicht mehr aufhören würde, ignorierte er jetzt erstmal.

Berlin

Sein früherer Kommilitone Hannes Schüler empfing Manuel Ritter im Außenministerium. Er wirkte größer und schlaksiger als er ihn in Erinnerung hatte, und sein etwas zu locker sitzender Anzug ließ erahnen, dass er in kurzer Zeit ziemlich stark abgenommen hatte. Obwohl die fahlen Wangen und die tiefen Augenringe vermuten ließen, dass Hannes ziemlich übernächtigt war, lächelte er auf genau die gleiche entwaffnende, bestechende Art und Weise wie früher, die vor allem bei den weiblichen Kommilitoninnen immer so gut angekommen war. Offensichtlich hatte er seine Fassung wiedergewonnen, denn in seiner Stimme lag jetzt kein Anflug von Panik mehr, als er mit ausgebreiteten Armen auf Ritter zuging und sagte: „Willkommen, alter Freund. Schön, dich hier im Außenministerium begrüßen zu dürfen. Ich werde dich gleich mit unserer Außenministerin bekannt machen. Aus dem Fernsehen dürftest du sie ja bereits kennen.“ Er schüttelte Ritter überschwänglich und übertrieben lange die Hand und drückte dabei viel zu fest zu, fast so, als suche er daran verzweifelt nach Halt. „Es handelt sich bei dieser Angelegenheit ja im weitesten Sinne um Außenpolitik – wenn man das so definieren darf, oder?“ Er lachte sein altbekanntes, donnerndes Lachen, doch Ritter nahm es ihm diesmal nicht so ganz ab. Es klang merkwürdig hohl und falsch. „Daher hat die Ministerin die Leitung des deutschen Krisenstabes übernommen. Mit der EU-Kommission und unseren wichtigsten Partnern in Washington, Peking und Moskau steht sie natürlich in ständigem Austausch. Mensch, da haben wir vielleicht eine Story, was? Wer hätte das je für möglich gehalten.“

Ritter verzog spöttisch das Gesicht, erwiderte aber nichts. Wenn ihr mich und meine Forschung schon damals etwas ernster genommen und nicht immer nur als Alien-Spinnerei abgetan hättet, dann wären wir jetzt ein ganzes Stück besser vorbereitet, dachte er grimmig bei sich und folgte Hannes durch lange, leere Korridore. Dann betraten sie gemeinsam einen großen Konferenzraum, der aussah wie ein kleiner Plenarsaal. „Meine Damen und Herren, der Exosoziologe ist da“, sagte Hannes zu den fünf Personen, die dort beisammensaßen. Neben der Außenministerin wurde Ritter mit dem Innenminister, der Verteidigungsministerin, dem Gesundheitsminister und dem Generaldirektor der Europäischen Weltraumagentur, aktuell ein Deutscher, bekannt gemacht. Alle kannte er natürlich bereits aus dem Fernsehen und fühlte sich jetzt, da er ihnen die Hand schüttelte und leibhaftig gegenüberstand, merkwürdig klein und unbedeutend.
„Bitte setzen Sie sich, Herr Ritter“, sagte die Außenministerin, „es ist höchste Eile geboten.“
Manuel Ritter hörte regungslos zu, während die Außenministerin ihm in knappen, eiligen Sätzen die Hintergründe erläuterte. Der Europäischen Weltraumbehörde war vor einigen Monaten eine wissenschaftliche Sensation gelungen: die Landung auf einem interstellaren Kometen, also einem Besucher aus einem anderen Sternensystem, der das Sonnensystem durchquerte. Für die „Comet Catcher“-Mission war eine Sonde in 1,5 Millionen Kilometern Entfernung von der Erde in einer Art Warteposition platziert worden, um dort auf einen Kometen aus einem anderen Sternensystem zu lauern. Zuvor war es nie gelungen, interstellare Kometen rechtzeitig zu entdecken, um sie näher untersuchen zu können. Die Brocken tauchten meist unerwartet auf, dann war es viel zu spät, eine Sonde hinzuschicken, denn die Entfernungen selbst innerhalb unseres eigenen Sonnensystems sind gigantisch. Die einzige Chance, einen solchen Kometen zu erwischen, war, ihn abzufangen, sobald er auftauchte.

Genau das war nun mit der Mission gelungen: Ein Landegerät setzte stabil und sicher auf dem Rücken des Riesen auf, während eine Sonde ihn umkreiste. Ritter hatte den Erfolg der Mission natürlich in den Medien verfolgt. Von den Gesteinsproben, die das Landegerät sammelte und zur Erde zurückbringen sollte, versprachen sich die Wissenschaftler neue, spannende Erkenntnisse über die Zusammensetzung und Herkunft des Besuchers. Doch es kam anders als erwartet. Das Landegerät fand unter Geröll- und Gesteinsschichten verborgen vor wenigen Tagen etwas anderes. Etwas, das nicht dorthin passte. Etwas, das das Selbstverständnis der Menschheit und das aktuelle Bild des Universums komplett auf den Kopf stellen würde. „Ich würde nun den Herrn Generaldirektor bitten, der gleich wieder zurück nach Paris muss, Herrn Ritter in aller Kürze darüber zu unterrichten, um was für eine Art von Fund es sich genau handelt“, leitete die Außenministerin zum Chef der Weltraumbehörde über.

„Ja, natürlich. Danke, Frau Ministerin. So ganz genau ist das noch nicht geklärt“, sagte der Generaldirektor, „woraus das Objekt besteht, wissen wir noch nicht. Es scheint sehr alt zu sein, weist aber keinerlei Zeichen von Verwitterung auf. Am ehesten könnte man es als eine Art Scheibe bezeichnen, perfekt glatt und rund, ohne Kanten und Nähte, und mit so etwas wie – zumindest macht es den Anschein – Schriftzeichen darauf.“
„Das Artefakt-Szenario“, murmelte Ritter, als der Generaldirektor für einen Moment pausierte, um einen Schluck Wasser zu trinken.
„Wie bitte?“, fragte die Außenministerin.
„Ich ähm – Entschuldigung, ich wollte die Ausführungen nicht unterbrechen, ich – ich habe nur gesagt, dass es sich hier also um das Artefakt-Szenario handelt. In der Exosoziologie haben wir verschiedene Szenarien entworfen, Gedankenexperimente, wenn Sie so wollen, die verschiedene Möglichkeiten eines Erstkontakts zwischen Menschen und Außerirdischen durchspielen: Beim Signalszenario werden von Radioteleskopen auf der Erde Signale aufgefangen, die eindeutig künstlichen Ursprungs sind. Beim Artefakt-Szenario, das jetzt offenbar Realität geworden ist, stößt man auf ein außerirdisches Objekt, eine Sonde oder vielleicht auch nur ein Trümmerteil. Beim dritten Szenario, dem Begegnungsszenario, geht es um einen direkten Kontakt, also etwa die Landung eines Raumschiffs auf der Erde.“ Ritters Stimme war mit jedem Satz fester und selbstsicherer geworden. Es war für ihn zwar noch immer unbegreiflich, dass das, woran er sein Leben lang geglaubt und geforscht hatte – aber immer nur in der Theorie! – plötzlich Wirklichkeit geworden sein sollte. Vielleicht befand er sich noch in einer Art Schockstarre und funktionierte einfach nur wie eine Maschine angesichts des Unfassbaren, aber sein Kopf war klar und er fühlte sich plötzlich sicher in seiner Materie, so sicher wie wohl noch nie zuvor.
„Nun, wenn das so ist, dann handelt es sich bei unserem Fund um eine Art Mischszenario aus allen dreien“, sagte der Generaldirektor, der Ritter aufmerksam zugehört hatte, „denn das, was ich erzählt habe, war noch nicht alles. Das Artefakt sendet nämlich auch noch Signale aus. Es hat den Anschein, als sei es, kurz nachdem wir es ausgegraben hatten, auf irgendeine Weise aktiviert worden. Denn seitdem verströmt es am laufenden Band Signale. Es hat ein gigantisches Mitteilungsbedürfnis. Wir schließen die Möglichkeit nicht aus, dass es sich um eine künstliche Intelligenz handelt. Das ist auch der Grund, weshalb wir diesen Fund nicht länger geheim halten können – auch wenn das für die internationale Sicherheit wohl die bessere Lösung wäre. Die Signale werden jeden Moment die vielen privaten SETI-Initiativen auf den Plan rufen, die schon seit Jahrzehnten vergeblich ins All lauschen. Das Artefakt ist gerade dabei, sein Geheimnis selbst zu lüften. Unsere Wissenschaftler sind aktuell damit befasst, zu versuchen, es aus dem Gestein zu bergen und statt der ursprünglich geplanten Gesteinsproben zur Erde zu bringen, damit wir es eingehender untersuchen können. Das wird schwierig bis unmöglich, da das Landegerät dafür eigentlich nicht gemacht ist. Und es wird natürlich Monate dauern.“
Ritter hob die Hand wie ein ehrgeiziger Zweitklässler, um zu signalisieren, dass er etwas sagen wollte, auch wenn das den hohen Herrschaften gegenüber vielleicht albern wirkte. „Sie wollen es zur Erde holen, Herr Generaldirektor? Wirklich? Es könnte gefährlich sein. Woher wissen wir, dass es sich nicht um eine Waffe handelt?“ Auch solche Gedankenexperimente hatte Ritter im Rahmen seiner Exosoziologie-Forschung immer wieder durchgespielt. Mit keinem guten Ende.
Die Verteidigungsministerin rührte sich auf ihrem Stuhl und sah so aus, als wolle sie etwas sagen, doch die Außenministerin kam ihr in scharfem Tonfall zuvor: „Das braucht jetzt nicht Ihre Sorge sein und liegt auch nicht in Ihrer Entscheidungsgewalt, Herr Ritter. Daher sollten Sie zum jetzigen Zeitpunkt keine Kapazitäten dafür verschwenden, das tun gerade die besten Astrophysikerinnen und Astrophysiker auf der ganzen Welt. Uns interessieren jetzt, da Sie in die Geschehnisse eingeweiht sind, erst einmal viel weltlichere Probleme, und dabei sind Sie der wertvollste wissenschaftliche Berater, den wir hierzulande finden konnten.“ Sie schloss für einen Moment die Augen und massierte sich die Schläfen, als hätte sie stechende Kopfschmerzen. „Was wir von Ihnen brauchen, ist eine Einschätzung darüber, mit welchen gesellschaftlichen Konsequenzen wir jetzt rechnen müssen, wenn der Fund publik wird. Wir haben wenige Tage, vielleicht nur Stunden, um uns über die Tragweite bewusst zu werden und entsprechende Maßnahmen einzuleiten.“ Sie räusperte sich und schaute kurz in die Runde. Alle Augen waren auf Ritter gerichtet. „Also, Herr Ritter“, sagte die Außenministerin, „auf was müssen wir uns einstellen? Massenpanik? Hamsterkäufe? Plünderungen? Börsen-Crash?“
Ritter rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. Plötzlich war ihm schlecht. Der Druck der Verantwortung lastete tonnenschwer auf seinem Brustkorb, als säße dort ein Elefant. Er schluckte, wurde aber den dicken Kloß in seinem Hals nicht los. Dann atmete er tief ein und aus und blickte der Außenministerin direkt in die Augen: „Möglicherweise mit allen von Ihnen genannten Punkten, Frau Ministerin. Und mit mehr.“

In einer Sache irrten sich sowohl Luc als auch Manuel Ritter in ihren Einschätzungen: Die Nachricht schlug nicht ein wie eine Bombe, und zur befürchteten weltweiten Massenpanik kam es zunächst nicht. Es schien eher, als verbreite sich die Mitteilung wellenartig und stoße dabei immer wieder auf hohe Dammmauern in Form von Skepsis, Misstrauen und Leugnung. Für Ritter und die wenigen anderen Vertreter seiner exotischen Fachrichtung war die Reaktion der Öffentlichkeit vor allem so etwas wie eine hochinteressante Fallstudie. Die Exosoziologie, eine Zukunftswissenschaft, wurde nun mit der Gegenwart konfrontiert. Ritter konnte seine Theorien und Gedankenexperimente erstmals wie eine Schablone auf die Wirklichkeit legen, um daran abzulesen, wo er richtig gelegen hatte und wo daneben. Völlig unterschätzt hatte er die Fähigkeit des Menschen zur Realitätsverweigerung. Trotz der erdrückenden Beweise, die von den internationalen Weltraumbehörden offengelegt worden waren, hielten viele Menschen die Nachricht für einen schlechten Scherz.

Manche wähnten sich gar inmitten einer riesigen, von langer Hand geplanten Regierungsverschwörung. Rasch bildete sich sogar eine Sammelbewegung unter dem Namen „Die Weltlichen“, dominiert von Ultrakonservativen und Strengreligiösen aller Glaubensrichtungen, die riesige Demonstrationen veranstalteten. „Das Alien-Artefakt ist eine LÜGE und eine FÄLSCHUNG“, skandierten sie auf diesen Kundgebungen, „diese angeblichen Alien-Botschaften sind die Hitler-Tagebücher des 21. Jahrhunderts!“ Den öffentlichen Raumfahrtagenturen warfen sie Panikmache und wissenschaftliche Schlamperei vor.

Den Teil derer, die in Angst und Panik verfielen, hatte Ritter hingegen überschätzt. Zwar kam es weltweit zu einigen kleineren Vorfällen aufgrund von Massenpaniken, aber in räumlich sehr begrenztem Ausmaß, sodass mit lokalen Ausgangssperren reagiert werden konnte. Ein erstaunlich großer Teil der Bevölkerung hingegen konnte sich für die mysteriöse Himmelsscheibe, wie das Artefakt in Anlehnung an die Himmelsscheibe von Nebra bald nur noch genannt wurde, sogar hellauf begeistern. Plötzlich sahen sich Science-Fiction-Fans, UFO-Jäger und Esoteriker, auch jene mit den krudesten Ideen, bestätigt und fanden viele neue Anhänger. Um die Dechiffrierung der Schriftzeichen auf der Scheibe sowie die Botschaften, die das Artefakt an die Erde funkte, war ein aufgeregter Wettbewerb entbrannt. Kunst, Kultur und Musik griffen den neuen Trend dankbar auf und es entstand eine regelrechte Alien-Pop-Kultur. Zwischen all diesen Extremen stand eine ratlose, unentschlossene Mitte, die sich nicht so ganz entscheiden konnte, was sie von dem Alien-Hype halten sollte.

Ritter war neben seiner Funktion als politischer Berater inzwischen ein gefragter Talkshow-Gast und Interviewpartner internationaler Medien geworden und versuchte sein Bestes, um der Öffentlichkeit das Gefühl der Verunsicherung zu nehmen. Eigentlich hätte er erschöpft sein müssen angesichts seines Arbeitspensums, aber tatsächlich fühlte er sich wacher und fitter als je zuvor. Es klang komisch, aber es fühlte sich so an, als wäre ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen. Wenn Ritter in seinem inzwischen atemlosen Alltag abends mal eine halbe Stunde Zeit zur Selbstreflexion fand, setzte er sich hin und notierte handschriftlich, welche Themen künftig stärker in die Exosoziologie-Forschung einfließen mussten – irgendwann, wenn der Trubel sich wieder gelegt hatte.

Auch auf politischer Ebene gingen die Meinungen über den Fund weit auseinander und sorgten für Spannungen in den Vereinten Nationen und der NATO. Manche Staaten erwogen gar Militärschläge oder zumindest den sofortigen Aufbau einer „Space Force“. Manche hätten das Artefakt lieber zerstört als eingehend untersucht gesehen. Die Mehrheit der Regierungen sprach sich jedoch für umfassende Untersuchungen und einen Rücktransport der Scheibe auf die Erde aus. Der Mensch war schließlich schon immer ein Pionier gewesen und bei der Entdeckung fremder Kontinente auch nicht auf halbem Weg umgekehrt. Zu den politischen Spannungen trug auch bei, dass immer mehr Staaten Besitzansprüche an der Himmelsscheibe anmeldeten. Nicht nur die EU, deren Weltraumagentur den Sensationsfund gemacht hatte. Sondern auch die USA, da amerikanische Ingenieure das Landegerät entwickelt hatten. Russland, da die Sonde vom Weltraumbahnhof in Baikonur aus ins All gestartet war. China, da die Materialien zur Herstellung von Sonde und Lander größtenteils von dort stammten.

Den internationalen Weltraumagenturen missfiel diese Politisierung des Fundes, sie riefen vielmehr dazu auf, nun alle Kräfte zu bündeln und gemeinsam daran zu arbeiten, der Himmelsscheibe ihre Geheimnisse zu entlocken. Sie betrachteten sie als eine Art archäologisches Fundstück, das außerhalb der Zugriffsrechte einzelner Staaten – quasi auf „internationalen Gewässern“ – gefunden worden war und somit niemandem gehörte. Wenn überhaupt, stand der Fund in seiner Einzigartigkeit und Bedeutung der gesamten Menschheit zu. Diese Auffassung jedenfalls vertraten die meisten Weltraumrechtler, die die Raumfahrtagenturen berieten. Sogar einige Gerichte urteilten dementsprechend. Den politischen Scharmützeln um den wertvollen Fund tat dies jedoch keinen Abbruch. Das nationalstaatliche Schachern um das Artefakt sollte bald als „Alien-Nationalismus“ in die Geschichte eingehen, ein heißer Kandidat für das Unwort des Jahres.

Gegen Ende des Jahres kehrte angesichts mangelnder Perspektiven für eine Lösung des Rätsels langsam wieder so etwas wie ein normaler Alltagstrott zurück. Man hatte sich inzwischen so sehr an die Omnipräsenz der Himmelsscheibe, die täglichen Live-Blogs und Sondersendungen gewöhnt, dass sich sowohl die Faszination und Begeisterung der einen wie auch die Angst, der Protest und die Ablehnung der anderen stark abgenutzt hatten. Das Leben ging weiter ¬– jetzt eben in einem neuen Zeitalter, in dem der Mensch offenbar nicht mehr allein im All war – aber doch erstaunlich unspektakulär, denn man würde wohl nie erfahren, was es mit der Scheibe auf sich hatte. Auch bei der Entschlüsselung der Signale gab es keine Fortschritte.

Doch dann geschah etwas, mit dem niemand gerechnet hatte. An einem Tag Anfang Dezember meldeten Astronomen weltweit plötzlich übereinstimmend, dass der Komet unerwartet seine Bahn verlassen hatte. Nicht nur das, er hatte gar eine Art Hakenschlag vollzogen – wie ein Hase, der vor einem Raubtier flüchtet, nur eben in viel größeren, kosmischen Dimensionen. Eine Beobachtung, die ganz und gar nicht mit den Berechnungen der Flugbahn, geschweige denn mit den physikalischen Gesetzmäßigkeiten zusammenpassen wollte. War der Komet mit irgendetwas kollidiert und aus der Bahn katapultiert worden? Alle Messdaten ließen davon nichts erahnen. Die Wissenschaftswelt musste ratlos und ungläubig mit ansehen, was der Komet noch auf Lager hatte. Denn er beließ es nicht beim einmaligen Hakenschlagen. Er schlug einen regelrechten Zickzack-Kurs ein, als habe er ein Eigenleben entwickelt und wisse noch nicht recht, wohin er wolle. Eines Tages stellten die Astronomen fest, dass er gar stehen geblieben war. Einfach so, mitten im All, als habe ihn jemand an einer unsichtbaren Schnur wie ein gigantisches Mobile zur Zierde dort hingehängt. Wenig später, noch bevor die Fassungslosigkeit über das unerklärliche Verhalten des Himmelskörpers in der aufgescheuchten Wissenschaftscommunity verebbt war, begann der Komet wieder loszurasen, genauso schnell wie zuvor, nur in eine andere Richtung. Es dauerte noch eine Weile, bis die Wissenschaft anhand des jetzt wieder stabilisierten Kurses neue Modellrechnungen über seine Flugbahn erstellt hatte. Und an denen gab es von der ersten Sekunde an keinen Zweifel, denn plötzlich machte alles Sinn. Der Brocken mit seiner außerirdischen Fracht an Bord raste schnurstracks auf die Erde zu.

Der Tag des Einschlags wurde für den 24. Dezember berechnet. Das Schicksal nahm manchmal merkwürdige Pfade. Wer hätte je geahnt, dass ausgerechnet der Weihnachtsstern, das Symbol der Hoffnung und des Neuanfangs, mehr als zweitausend Jahre später als Todesstern über der Erde niedergehen würde? Zyniker könnten diesen seltsamen Zufall gar als eine Art schlechten Scherz des Schicksals interpretieren. Doch dem Universum war das Schicksal egal. Es nahm keine Rücksicht auf Sentimentalitäten.

Paris

Luc, seine Kolleginnen und Kollegen und sein Chef Jean-Paul saßen wieder im Konferenzraum zusammen, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Die Croissants standen auch heute wieder auf dem Tisch und verströmten einen buttrig-süßen Duft, der für Luc aber eher nach Fäulnis roch. Nach der Fäulnis des Todes. Noch war die Hiobsbotschaft in ihren schrecklichen Ausmaßen nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen, sie war zu groß, zu mächtig. Jean-Paul seufzte. „Tja“, sagte er mehr zu sich selbst als zu den anderen Anwesenden im Raum, „es sieht wohl so aus, als hätte sich unsere interstellare Flaschenpost in einen Molotow-Cocktail verwandelt.“

Die Menschheit wusste, dass sie keine Chance hatte. Es gab kein planetares Verteidigungssystem, nichts, was man dem gigantischen Brocken entgegensetzen könnte. Fest stand, dass er groß genug war, alles Leben auf der Erde zu vernichten, wenn nicht schon durch den Einschlag, dann durch die zwangsläufig folgenden Tsunami-Wellen und die Verdunkelung des Himmels, die das Sonnenlicht über Jahrzehnte auslöschen würde. Ideen zur Rettung wie das Zünden von Wasserstoffbomben auf dem Himmelskörper, um ihn von seiner Bahn abzulenken, existierten nur in Science-Fiction-Filmen. Außerdem war dafür viel zu wenig Zeit. Der Komet näherte sich rasend schnell, bald war er das hellste Objekt am Nachthimmel abgesehen vom Mond. Und bald war er sogar am Tage mit bloßem Auge zu erkennen.

Frankfurt

Manuel Ritter starrte die roten Ziffern seines Radioweckers an. 06.02 Uhr. Er saß hellwach im Bett, hatte nicht ein Auge zugetan. Als letzte, klägliche Amtshandlung als Mitglied des Krisenstabs hatte er gemeinsam mit Mathematikern, Physikern und Philologen Botschaften vorbereitet, die Radioteleskope in aller Welt nun in alle Himmelsrichtungen hinaus ins All funkten: „Bitte verschont uns!“, „Wir ergeben uns!“, „HALT! STOPP!“. Oder sogar, in der naiven Hoffnung auf einen gütigen, mächtigen Erlöser, der in letzter Sekunde als Retter auftauchen könnte: „SOS, SOS, die Erde braucht Hilfe, wir werden angegriffen! Bitte, wer immer das hier empfangen kann – helft uns!“ Doch niemand kam. Und er war mit seinem Latein am Ende. Ritter rieb sich die Augen. Draußen heulten die Sirenen pausenlos, der hilflose Versuch der Rettungskräfte, angesichts der drohenden Apokalypse so etwas wie eine öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Wie die Musiker auf der Titanic, die bis zum Untergang weiterspielten. Fast musste Ritter lachen, als er sich plötzlich an einen Satz erinnerte, den er bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem Krisenstab geäußert hatte: „Es könnte gefährlich sein. Woher wissen wir, dass es sich nicht um eine Waffe handelt?“ Er hätte diese Warnung dringlicher aussprechen müssen. Er hätte alles dafür tun müssen, zu verhindern, dieses Ding weiter zu untersuchen. Er hätte dazu raten müssen, es einfach mit dem Kometen davonziehen zu lassen, auf Nimmerwiedersehen. Er, der doch um die Gefahren gewusst hatte! Obwohl er in vielen seiner Szenarien immer wieder zu dem Schluss gelangt war, dass ein Erstkontakt mit Aliens potenziell die Gefahr einer Auslöschung der Menschheit barg, so war er in seinem tiefsten Innern doch immer davon überzeugt gewesen, dass eine außerirdische Intelligenz bestimmt gut war. Gütig, friedlich. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es eine im Wesenskern böse Spezies technisch so weit bringen würde, interstellare Entfernungen zu überwinden und Kontakt mit anderen Welten aufzunehmen, ohne sich zuvor selbst zu zerstören. Die Darstellung von aggressiven, mordlustigen Aliens in den meisten Science-Fiction-Filmen hatte ihn sogar immer ziemlich geärgert. Jetzt wurde ihm klar, dass er sich vom eigenen Wunschdenken hatte leiten lassen. Wie naiv er doch gewesen war! Ritter lachte jetzt wirklich, erst war es ein Kichern, dann ein schallendes Lachen, in das sich Tränen der Verzweiflung mischten, und bald war es nur noch ein Schluchzen. Er hätte so viel mehr reisen, von der Welt sehen müssen. Immer hatte er sich in seiner Forschung vergraben, von fernen Welten geträumt und sich nie sonderlich um die Erkundung seiner eigenen geschert. Vielleicht hätte er doch heiraten sollen. Einmal hatte er die Chance dazu gehabt, doch er hatte einen Rückzieher gemacht. Vielleicht wäre Carla doch die Richtige gewesen. Er hätte mit ihr die Welt bereisen können und wäre jetzt nicht allein. Was Carla jetzt bloß machte? Wo sie den Lebensabend der gesamten Menschheit wohl verbrachte?

An dem Tag, an dem der Papst eine große Fernsehansprache hielt, die in allen Sprachen übertragen wurde, stürzte die Welt endgültig ins Chaos. „Wieder einmal hat die Wissenschaft die teuflische Büchse der Pandora geöffnet und Kräfte entfesselt, die im Verborgenen bleiben sollten“, schwor der Papst die Menschheit auf den Tag des Jüngsten Gerichts ein. „Ich rufe alle Christen, nein, alle Völker dieser Erde auf, gemeinsam um Vergebung zu bitten, denn jetzt bleibt uns nichts weiter als das Gebet. Herr, vergib uns unsere Sünden! Erlöse uns von dem Bösen! Und schütze Deine Kinder vor der Vernichtung durch eine teuflische Macht.“ Kurz nach der Ansprache fielen Fernsehübertragung, Telefon und Internet endgültig aus, die öffentliche Ordnung brach zusammen.

Die Aussichtslosigkeit der Lage hielt manche Nationen nicht von verzweifeltem Aktionismus ab. Eine Atommacht zündete eine Langstrecken-Atomrakete in Richtung Komet, die natürlich nie für den Einsatz außerhalb der Erdatmosphäre erprobt worden war. Die Bombe stürzte zurück auf die Erde und machte mehrere Kleinstädte dem Erdboden gleich, weite Landesteile wurden verstrahlt.

Nicht lang vor Heilig Abend begann der Komet leicht von seiner zerstörerischen Bahn Richtung Erde abzuweichen. Das fiel den meisten natürlich zunächst nicht auf, und da die gängigen Kommunikationswege mittlerweile zusammengebrochen waren, gab es keine Möglichkeit mehr, die Massen zu erreichen. Wissenschaftler der Weltraumbehörden jedoch begannen, vorsichtig Hoffnung zu schöpfen, denn der Schlenker, den der Komet einschlug, wurde immer großzügiger. Bald wurde aus der Hoffnung Gewissheit: Der Brocken würde die Erde in sicherem Abstand verfehlen! Eilig war man darum bemüht, Kommunikationswege wiederherzustellen, um die Kunde in die Welt hinauszurufen – eine neue frohe Weihnachtsbotschaft sozusagen. Es dauerte ein paar Tage, bis sich die Absage der Apokalypse überall herumgesprochen hatte. Doch dann gab es kein Halten mehr. Allerorten lagen Menschen sich weinend vor Erleichterung in den Armen. Herkunft, Nationalität, Religion, Geschlecht und Alter spielten für einen kurzen Moment der Freude überhaupt keine Rolle mehr.

Die Menschheit spürte vielleicht zum allerersten Mal eine Art von Zusammenhalt, die sie bislang immer davon abgehalten hatte, über sich hinaus zu wachsen. Sie spürte, dass alle Unterschiede und Spaltungen, die zwischen den Menschen standen, im Grunde gar keine waren. Jetzt spürten die Menschen erstmals, dass sie alle gemeinsam in einem Boot saßen. Sie alle rasten auf einem winzigen, zerbrechlichen blauen Planeten durch ein unbarmherziges Universum, deren Kräften und Geheimnissen sie alle hilflos ausgeliefert waren. Es war natürlich fraglich, wie lange dieses neu entdeckte Hochgefühl der Zusammengehörigkeit anhalten würde. Aber in dem Moment der Freude dachte darüber niemand nach. Es gab wieder ein Morgen, das war alles, was zählte. Die Menschen hörten gar nicht mehr auf, einander zu umarmen. Darunter waren auch Manuel Ritter und sein alter Kommilitone Hannes Schüler, Luc und sein Chef Jean-Paul, die Außenministerin und der Generaldirektor. Trotz aller Zerstörungen und Verluste, die es durch den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und missglückte Kriegsmanöver gegeben hatte, schien es plötzlich so, als habe es noch nie einen glücklicheren Tag in der Geschichte der Menschheit gegeben. Vielleicht hatte sie erst an die Kante des Abgrunds treten und in den tiefen, hässlichen Schlund hineinblicken müssen, um das zu erkennen.

Sibirien

In all dem Chaos und Freudentaumel völlig unbemerkt ging über der russischen Tundra ein kleiner Meteorit nieder. Tiefrot glühend sauste die Himmelsscheibe durch die Erdatmosphäre und schlug donnernd im Permafrostboden ein. Unversehrt und ohne einen einzigen Kratzer lag die Scheibe in dem entstandenen Krater und begann sofort, sich mit ihren Wurzeln mit ihrer neuen Umgebung zu verbinden. Die Erde hatte sich einen außerirdischen Parasiten eingefangen, den seine Erschaffer vor vielen tausenden Jahren als Flaschenpost auf einem steinigen Wirt auf die Reise durch die Unendlichkeit geschickt hatten. Jetzt hatte der Parasit seinen alten Wirt abgestreift und sich einen neuen gesucht. Was genau er mit ihm vorhatte, wusste nur der Parasit selbst. Noch immer sandte die Himmelsscheibe Signale aus, es war also nur eine Frage der Zeit, bis die Menschen sie entdecken würden.

Irgendwann, wenn wieder so etwas wie Ordnung und ein Alltag eingekehrt war. Noch war es nicht so weit. Noch waren die Menschen zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Als wäre die Menschheit aus einem kollektiven Albtraum erwacht, begannen überall auf der Welt beschwingt die Aufräumarbeiten. Trotz des tiefen Traumas machte sich eine fast schon hysterische Euphorie breit, im festen Glauben daran, dieses Kapitel nun ein für alle Mal abgeschlossen zu haben. Noch ahnte niemand, dass das neue Kapitel der Menschheit gerade erst begonnen hatte.

Copyright: Meike Mittmeyer-Riehl 2021

Abschiedsbrief an Kira

Meine liebste Kira,

ich hätte dir diesen Brief gern vorgelesen, als du noch da warst. Aber ich bin nicht rechtzeitig fertig geworden. Ja, ich habe die Deadline verpasst. Eigentlich ein No-Go im Journalismus. Früher, als ich noch bei der Zeitung war, wäre also eine leere Stelle erschienen, dort, wo mein Text hätte sein sollen. Geht gar nicht. Dafür möchte ich mich aufrichtig bei dir entschuldigen. Allerdings hatte ich einen, wie ich finde, guten Grund. Dein Tod kam – obwohl absehbar – am Ende doch so schnell, so brutal und mit solch einer Wucht, dass selbst meine flinken Finger, die du manchmal misstrauisch beäugt hast, wenn sie krachend laut über die Computertastatur flogen, nicht schnell genug hinterherkamen, um all das aufzuschreiben, was ich dir noch erzählen wollte. Eigentlich brauche ich dir das auch gar nicht zu erzählen, denn du hast schließlich alles selbst miterlebt. Oder das Meiste zumindest. Die letzten paar Abschnitte nicht, fürchte ich, aber die hast du vielleicht doch von irgendwo aus beobachtet, aus einer anderen Perspektive. Ich weiß es nicht und werde es leider nie erfahren.

Aber ich wollte dich mit diesem Abschiedsbrief wissen lassen, was für eine liebenswürdige, besondere, außergewöhnliche, wundervolle, bildhübsche Katze du warst und wie unfassbar schwer der Abschied von dir war. Bei diesen schmeichelnden Worten hättest du dich an meinen Knien gerieben, als wollest du mir sagen: Mehr davon, mehr davon. Ja, ihr Katzen liebt es, umgarnt und geschmeichelt zu werden, ich weiß. Fast so sehr, wie ihr eure Lieblings-Leckerlies liebt (in deinem Fall: Felix Knabbermix, Geschmacksorte Grillspaß). Und so will ich dir diesen Brief nun einfach vorlesen, obwohl du schon fort gegangen bist. Und ich stelle mir vor, wie du an den jeweiligen Stellen reagiert hättest. Das schreibe ich auch mit auf. Um die Übersicht zu wahren, formatiere ich diese Passagen kursiv. Schräg, oder? Im wahrsten Sinne des Wortes. Wir Menschen sind halt so: komisch, widersprüchlich. Manchmal wendet ihr uns völlig zu Recht euren Po zu und geht eurer Wege. Aber andererseits scheinen wir auch sehr oft sehr viel richtig zu machen. Nun, jetzt geht es aber wirklich los.

Ich liege auf der Couch und du sitzt neben meinen Füßen, stolz und aufrecht. Deine Vorderpfötchen sind in einer perfekten Linie eng nebeneinander abgestellt, ich habe diese Sitzhaltung immer gern „Vasen-Position“ genannt. Du siehst nämlich aus wie eine perfekt gefertigte Porzellan-Katze. Deine großen, hellgrünen Augen schauen mich erwartungsfroh an.

Du hast uns um den Finger gewickelt. Und nicht nur uns.

Ich beginne am besten: ganz am Anfang. Damals, als wir dich noch nicht hatten. Es war das Jahr 2012. Dennis und ich waren 25 Jahre jung, fühlten uns aber plötzlich so viel älter. Als wären wir über Nacht erwachsen geworden, gezwungenermaßen. Der 17. März 2012 hatte unser beider Leben auf tragische Weise für immer verändert. Ich hatte an diesem Tag einen Schlaganfall – aus heiterem Himmel, als junge, gesunde, sportliche Nichtraucherin. Meine Halsschlagader war beim Tennisspielen eingerissen – eine sogenannte spontane Dissektion – und hatte einen Gefäßverschluss im Gehirn verursacht. Ich hatte großes Glück und trug keine körperlichen Schäden zurück. Dennoch hat meine Erkrankung alles verändert, zumal nie geklärt werden konnte, warum meine Ader riss.  Wenn man in so jungen Jahren, in denen einem die Welt eigentlich offensteht, plötzlich mit dem Tod und der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert wird, dann macht das etwas mit einem. Im negativen wie im positiven Sinne. Die positive Folge dieses einschneidenden Erlebnisses war, dass wir beschlossen, unsere Träume nicht immer auf ein „Morgen“ oder ein „Irgendwann“ zu verschieben, das vielleicht niemals kommt, sondern sie nach Möglichkeit sofort in ein „Jetzt“ zu verwandeln. Wir reisten in den folgenden Jahren an Orte, von denen wir immer geträumt hatten, auf die Galápagos-Inseln etwa…

Okay ich sehe schon, das Thema Reisen ist für dich längst nicht so spannend wie für mich. Du gähnst mir unverhohlen ins Gesicht; reißt dein Mäulchen auf, in dem sich deine lange, rosafarbene Zunge kräuselt. Dann blinzelst du müde, drehst dich einmal um die eigene Achse und lässt dich halb zusammengerollt wie ein Croissant nieder. Dein Kopf bleibt noch aufgerichtet, aber deine Augen sind jetzt geschlossen. Jeder, der eine Katze hat, weiß, dass es zwischen Wachen und Schlafen ungefähr 50.000 verschiedene Bewusstseinszustände gibt: das Ruhen, das Dösen, das Dämmern… ich weiß also ganz genau, dass du mir noch zuhörst, deine Ohren sind ganz aufmerksam und zucken in alle Richtungen. Also lese ich weiter.

Zurück in unser Schicksalsjahr 2012. Ich hatte mir schon immer eine Katze gewünscht. Ich liebte die Anmut dieser Tiere, wusste aber gleichzeitig, was für eine große Verantwortung solch eine Entscheidung mit sich bringt. Jetzt, nach dem Trauma meiner schweren Erkrankung, wollte ich mir diesen Wunsch aber unbedingt erfüllen. Im September zogen Dennis und ich in unsere erste gemeinsame Wohnung. Nach den ersten paar Monaten der Eingewöhnung gingen wir das Katzen-Thema ernsthaft an und vereinbarten einen Termin in unserem örtlichen Tierheim. Es war ein kalter, grauer Tag Anfang Dezember. Eine Mitarbeiterin führte uns durchs Katzenhaus, in dem sich unzählige Samtpfoten auf Kratzbäumen, Kissen oder in Höhlen tummelten. Manche streiften gleich zutraulich um unsere Beine, als wir den Raum betraten, andere beäugten uns misstrauisch. Wir waren angesichts der großen Zahl an Tierchen erstmal völlig erschlagen und überfordert. Alle süß, ja, aber wie sollte man sich da bloß entscheiden? Alles war uns zu laut, zu hektisch und zu gezwungen. Irgendwie kamen wir uns albern und unbehaglich dabei vor, aus der Menge heraus eine Katze auswählen zu müssen, so wie man sich unter dem Druck einer riesigen Warteschlange eine von unzähligen Geschmackssorten in der Eisdiele aussuchen muss. Dennis und ich schauten uns ratlos an. „Was ist denn mit den Katzen da hinten?“, fragte er schließlich die Mitarbeiterin und deutete in Richtung des Gangs, den wir gerade entlanggelaufen waren. Er war von Gittertüren gesäumt gewesen. „Da haben wir auch noch einige Katzen in Einzelhaltung, da sie sich mit den anderen nicht so gut verstehen. Wir können gern dort gucken gehen“, sagte die Mitarbeiterin. Na toll, die Soziopathen-Katzen, war mein erster Gedanke. Wollten wir das wirklich riskieren, eine beziehungsunfähige Katze? Dennoch folgten wir der Frau zurück in den Gang mit den Einzelgehegen. Die meisten Katzen versteckten sich so gut es ging in den Ecken ihrer Käfige, andere dösten vor sich hin. Nur an einem dieser Gitter rieb sich ein zartes, schwarz-braun-rot-weiß getigertes, pelziges Etwas und gurrte, als wollte es ganz dringend auf sich aufmerksam machen, bevor wir vorbeigeeilt waren. Das warst du.

Liebe auf den ersten Blick – äh Schleck?

Ja, wir hatten vorher von diesen klischeehaften Geschichten gehört, dass sich das Tier sein Menschlein aussucht und nicht umgekehrt. Wir hatten das immer als Kitsch abgetan. Aber es stimmte. Du hast uns an jenem grauen Dezembertag ausgesucht, nicht wir dich. Du hörtest damals noch auf den merkwürdigen Namen „Veltine“. Die Tierheim-Mitarbeiter*innen hatten es irgendwann sattgehabt, jede Fundkatze „Lily“ oder „Mimmi“ zu nennen, darum erlaubten sie sich hin und wieder eine Art launische Kreativität. Als du im Oktober 2012 ins Tierheim gekommen warst, wurden gerade alle Neuankömmlinge nach Biersorten benannt. Wie deine zwei Jungen hießen, mit denen du damals gemeinsam angekommen warst, haben wir nie erfahren. Man sagte uns nur, dass sich für die beiden Babys sofort neue Besitzer*innen gefunden hatten. Du – mit deinen anderthalb bis zwei Jahren zwar noch jung, aber eben schon ausgewachsen und damit offenbar unattraktiv für viele Interessenten –  warst seitdem allein in deinem Gehege, weil du dich mit den anderen Katzen nicht vertragen hast. Vielleicht, weil deine mütterlichen Beschützerinstinkte noch so stark ausgeprägt waren. Obwohl wir also ein Auge auf dich und eigentlich auch schon unser Herz an dich verloren hatten, verließen wir das Tierheim an diesem Tag noch ohne Katze, da wir nach den vielen Eindrücken eine Nacht darüber schlafen wollten, um uns ganz sicher zu sein. So eine Entscheidung für ein Tier kann man nun mal nicht leichtfertig treffen, schließlich ist sie eine für sehr lange Zeit, im besten Fall ein gesamtes Katzenleben, also wenn es gut läuft 15 Jahre oder mehr. An dem Montag nach unserem Besuch im Tierheim stand unser Entschluss felsenfest. Ich weiß noch, dass ich gerade auf dem Parkplatz der Zeitungsredaktion stand, bei der ich damals Volontärin war, als ich die Nummer des Tierheims wählte. Ich wollte dich unbedingt für uns sichern, sobald die Sprechzeit begann, damit uns nicht doch noch jemand zuvorkam.
„Ist die Veltine noch da?“, fragte ich, plötzlich etwas nervös.
„Ja, die ist noch da“, kam die prompte Antwort.
„Dann möchte ich sie gerne für uns reservieren.“

Du legst dein Köpfchen jetzt zufrieden auf deinen Vorderpfoten ab, erreichst den nächsten Bewusstseinszustand auf der Schwelle zum Schlafen. Deine Ohren bleiben aber aufmerksam. Dir gefällt offenbar, was du hörst. Keine Angst, ich habe noch mehr Schmeicheleien für dich.

Kurz vor Weihnachten 2012 holten wir dich zu uns nach Hause und tauften dich Kira. „Da habt ihr euch die Liebste ausgesucht“, sagte die Tierheim-Mitarbeiterin bei der Abholung. Wie recht sie doch haben sollte! Ein paar Tage zuvor hatten wir uns im Tierladen eine Katzen-Grundausstattung gekauft: Kratzbaum, Näpfe, Spielzeug, Katzenklo, Streu, Nass- und Trockenfutter, Deckchen… wir beide hatten keinerlei Katzen-Erfahrung und hofften, viel hilft viel. Ich hatte zur Vorbereitung mehrere Katzen-Ratgeber gelesen. Sie alle hatten eins gemeinsam: Die Katze würde sich, sobald man sie zu Hause aus der Transportbox ließ, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit erst einmal unter dem Sofa oder dem Bett verschanzen und sich eine ganze Weile nicht blicken lassen. In diesem Punkt schienen sich sämtliche Ratgeber völlig einig zu sein. Nun, wie soll sich sagen – es waren Ratgeber über Katzen, aber keine Ratgeber über Kiras. Denn du warst ganz anders. Du kamst aus deiner Transportbox aufrecht, stolz und neugierig schnuppernd heraus, kein bisschen ängstlich. Es war eher, als kämst du nach längerer Zeit nach Hause zurück, nicht, als würdest du in ein komplett neues Zuhause einziehen. Schon nach wenigen Minuten ließest du dich – plumps – mit einem Purzelbaum vorwärts auf den Teppich fallen und von uns durchkraulen. Dieser Teppich war fortan dein „Begrüßungs-Teppich“, auf dem du dich immer lang machtest, wenn wir nach Hause kamen und du deine Portion Streicheleinheiten einfordertest. Gleich in der ersten Nacht sprangst du zu mir ins Bett. Ich weiß, dass ich früher einmal sehr ambivalent gegenüber der Frage gewesen war, ob Tiere im Bett schlafen sollten oder nicht. Aber das Thema war an diesem Abend ein für allemal geklärt, eins zu null für dich. Und schon nach der ersten Nacht konnte ich mir nicht mehr vorstellen, wie ich je ohne warmes, schweres Bündel auf Beinen, Bauch oder Brust einschlafen sollte (im Urlaub hatte ich tatsächlich oft Einschlafprobleme, weil du nicht da warst!) Du warst von Anfang an so herzallerliebst, Kira. Und noch viel flauschiger und hübscher als ich dich aus dem Tierheim in Erinnerung hatte. Mit deinen langen, spitzen Ohren und dem rötlichen Schimmer in deinem gescheckten Fell sahst du aus wie ein kleiner Luchs, und manchmal nannte ich dich tatsächlich so. Im Laufe der Jahre sollten viele weitere Spitznamen dazukommen. Ich habe neulich mal versucht, alle zusammenzutragen. Bei 60 habe ich aufgehört zu zählen. „Die 9 Milliarden Namen Kiras“, scherzte ich manchmal in Anlehnung an eine Kurzgeschichte des von mir hochgeschätzten Science-Fiction-Autors Arthur C. Clarke. 

Du hebst leicht dein Köpfchen und beginnst, dir genüsslich deine rechte Vorderpfote zu schlecken. Die Haut auf den Unterseiten deiner Tatzen hat – genauso wie dein wunderbar weiches Fell – mehrere Farben, sie ist bunt gescheckt. Am liebsten möchte ich in diese zarten, weichen Fußballen hineinbeißen, so süß sehen sie aus. Aber das überlasse ich dann doch dir, während du dich gründlich pflegst. Menschenspucke ist nicht so euer Ding. „Sie ist eine sehr reinliche Katze“, hatte die Frau im Tierheim uns gesagt. Das stimmt. Selbst für eine Katze putzt und wäschst du dich ungewöhnlich häufig.

Ich würde mich so gern an noch mehr Details unserer allerersten gemeinsamen Tage erinnern, aber ich tue es leider nicht, die Erinnerungen verschwimmen zu einem großen Ganzen. Was ich allerdings weiß ist, dass wir drei von Anfang an eine Einheit bildeten, ein Rudel. Und dass du uns beiden blutigen Katzen-Anfängern den Einstieg so leicht gemacht hast wie nur irgend möglich. Du warst nämlich nicht nur zweifellos die süßeste und hübscheste, sondern auch die liebste Katze der Welt. Du sprangst nicht auf Tische, du kratztest nicht an Sofas oder Tapeten, du nutztest dein Katzenklo von Anfang an vorbildlich und schliefst nachts, wenn wir schliefen. Und du folgtest uns auf Schritt und Tritt, warst immer für eine Runde Schmusen und Spielen zu haben, hattest nie schlechte Laune. Manchmal fragten wir uns ernsthaft, warum du so brav warst und noch viel mehr: Warum zur Hölle jemand eine so liebe, unkomplizierte Katze, noch dazu mit ihren beiden Jungen, einfach ausgesetzt hatte. Vielleicht warst du einfach nur unendlich dankbar dafür, dass wir dich aufgenommen, dir eine Chance gegeben hatten, nachdem dich im Tierheim monatelang niemand wollte? Du hast es uns leider nie verraten. Es wird für immer eines deiner vielen Geheimnisse bleiben.

Du warst uns einfach nur unendlich dankbar. Und wir unendlich dankbar für dich.

Für uns war von Anfang an klar, dass wir dir Freigang ermöglichen wollten. Schließlich arbeiteten wir beide Vollzeit und hätten ein schlechtes Gefühl dabei gehabt, dich den ganzen Tag allein zu lassen. Doch die ersten paar Monate nach dem Einzug in ein neues Zuhause müssen Katzen nun mal drin bleiben, um sich an ihre neue Umgebung zu gewöhnen. An diesem Punkt kam unsere Vermieterin Frau Schneider ins Spiel. Sie hatte bei früheren Mieterverträgen nie Tiere geduldet, doch uns zuliebe hatte sie bei unserem Einzug wenige Monate zuvor einen Passus ergänzt, der uns die Haltung einer Katze erlaubte. Zu ihrem großen Glück, denn auch wenn sie es sich damals wohl nie hätte träumen lassen, bereichertest du auch ihr Leben bald ganz gewaltig. Frau Schneider war von der ersten Sekunde an total in dich verliebt. Sie hat vier erwachsene Kinder und acht Enkel, trotzdem fand sie immer noch genügend Zeit, dich nach Strich und Faden zu verwöhnen und zu bemuttern. Sie erzählt heute noch voller Wonne davon, dass du manchmal zu ihr auf die Couch gesprungen bist, um ihr die Füße zu wärmen. Du hast sie einfach um den Finger gewickelt, so wie du jeden um den Finger gewickelt hast. Selbst meine Eltern, bis dato ihr Leben lang katzenlos, nahmen ein paar Jahre später eine Tierheim-Katze bei sich auf. Das war dein Einfluss, Kira. Jeder ist dir sofort verfallen, es ging gar nicht anders.

Du bist immer noch mit deiner gründlichen Katzenwäsche beschäftigt. Leckst dir die Brust, den Bauch, den Rücken. Zum Schluss schleckst du dir dein rechtes Pfötchen nass und wächst damit dein Gesicht bis hinauf zur roten Strähne mitten auf deinem Kopf, die wir immer deine „Glückssträhne“ nannten. Wer hat sich nicht schon mal gewünscht, beweglich und agil wie eine Katze zu sein, nur ein einziges Mal? Ich betrachte dich eine Weile liebevoll, dann lese ich weiter.

Im Frühjahr 2013 hatte sich unser Alltag mit dir gut eingespielt und die Zeit war reif für deinen ersten Freilauf. Der entwickelte sich allerdings zu einem totalen Desaster und ich dachte, ich hätte dich nach nur wenigen Monaten für immer verloren und als frisch gebackene Katzenmutter komplett versagt. Wir ließen dich an einem milden Sonntag raus in die weite Welt. Ohne Scheu und mit sichtbarem Stolz begannst du, wie eine Tigerin dein Reich zu durchstreifen und warst bald, schwups, um die nächste Straßenecke verschwunden. Wir blieben mit einem mulmigen Gefühl zurück, redeten uns aber immer wieder gut zu: Sie weiß, wo sie zuhause ist. Wir haben sie lang genug drin behalten und eingewöhnt. Sie findet den Weg zurück. Stundenlang fehlte von dir jede Spur. Irgendwann wurden wir wirklich unruhig und begannen, die Nachbarn zu fragen, ob sie dich gesichtet hatten. „Sie ist ja noch ganz neu hier, vielleicht hat sie sich verlaufen. Oder ihr habt sie versehentlich in der Garage eingesperrt?“ Doch niemand hatte dich gesehen. Wenig später brüllte eine Nachbarin, die schon beim normalen Gespräch eine so laute Stimme hat, dass man den Drang verspürt, sich die Ohren zuzuhalten: „MEIKE! ICH HAB EURE KATZE!“  Und da kam sie mir entgegen mit einer wild zappelnden und verängstigten Kira im Arm. „Alles gut, sie hat nichts, aber ich dachte, ich schnappe sie mal besser!“, schrie die Nachbarin, obwohl ich jetzt direkt vor ihr stand. Erleichtert nahm ich dich an mich und brachte dich schnell hoch in die Wohnung. Auf den ersten Blick sahst du unverletzt aus, wirktest nur völlig aufgedreht und betrunken von einer Überdosis Freiheit, was aber nicht verwunderlich war nach langen Monaten im Tierheim und dann in unserer Wohnung. Erst abends beim Streicheln bemerkten wir, dass du zu knurren begannst, wenn wir dich an einer bestimmten Stelle an der Seite berührten – und entdeckten Bissspuren, die dein dichtes Fell bislang komplett verborgen hatte. Also ab zum Not-Tierarzt (es war ja Sonntagabend), der dir Antibiotika spritzte. Du hattest dich bei deinem ersten Ausflug irgendwo mit einer anderen Katze, vielleicht auch einem Kater, angelegt. Jedenfalls half dir dieses Erlebnis offenbar dabei, die Grenzen deines Reviers abzustecken und auch einzuhalten: In die Richtung, aus der die laut brüllende Nachbarin mir entgegenkam, gingst du von diesem Tag an nie wieder – und beschränktest dein Revier auf die vielen angrenzenden Gärten und den Spielplatz direkt neben unserem Wohnhaus.

Drinnen eine Samtpfote, doch draußen eine Tigerin.

Eine Katze braucht Freigang. Davon bin ich fest überzeugt, seitdem ich dich draußen beobachtet habe. Drinnen in der Wohnung warst du ein anhängliches, zartes, verschmustes Kätzchen. Draußen hingegen warst du eine Tigerin. Kein Baum war zu hoch, kein Mäuschen zu schnell. Eine Katzentreppe aus Holz, die Dennis und ein Freund für dich bauten, ermöglichte dir bald einen noch einfacheren Abstieg von unserer Wohnung im ersten Stock hinunter in die Welt. Der tägliche Kontrollgang durch dein Revier musste immer sein, um fremde Katzen fernzuhalten. Die hast du nicht geduldet in deinem Reich und schrecktest nicht davor zurück, dich mit doppelt so großen und schweren Katern anzulegen. Verletzungen trugst du (abgesehen von dem Biss beim ersten Freilauf) zum Glück nie davon, auch sonst warst du nicht viel krank. Ab und zu mal ein Schnupfen oder eine Blasenentzündung. Vor etwa einem Jahr wurde felines Asthma diagnostiziert, das wir mit einem Spray gut eingestellt bekamen. Was soll ich sagen, Kira? Es hätte einfach ewig so weitergehen können. Aber das Schicksal hat anders entschieden.

Unsere Zeit zusammen war kurz, zu kurz, aber dafür intensiv. Du hast alles miterlebt: Die frühe Phase in unserer ersten gemeinsamen Wohnung, die Genesung von meiner eigenen schweren Erkrankung, unsere Verlobung und Hochzeit, viele Jobwechsel, Anfang dieses Jahres dann den Umzug in unser Eigenheim, ein harter Einschnitt für ein ortsbezogenes Wesen wie eine Katze, den du aber so toll bewältigt hast. Man nennt diese Jahre zwischen Mitte 20 und Ende 30 auch „Rushhour des Lebens“, und du warst mit uns mitten drin in dieser heißen Phase. Rückblickend sind die Jahre nur so an uns vorübergezogen wie im Fieberrausch. Du hast uns wachsen und auch irgendwie erwachsen werden sehen. Und immer warst du dabei ein Spiegel dieser jeweiligen Zeit und vor allem unserer eigenen Gefühle und Gemütslagen. Ich wollte dich alt werden sehen, meine Süße. Mit deinen zehn Jahren nähertest du dich so langsam dem Seniorenalter, auch wenn du äußerlich noch jung und frisch wie eh und je aussahst. Wir wollten dir den Übergang ins Renten-Dasein so leicht wie möglich gestalten. Erst vor einem halben Jahr haben wir dir einen neuen Zweit-Kratzbaum gekauft, mit größerer Liegefläche und mehreren Stufen als Aufstiegshilfe. Ein Senioren-Modell sozusagen, dein „Mercedes“, wie wir ihn bald nur noch nannten. Du warst gesund und putzmunter und alle Zeichen deuteten in Richtung eines tollen, entspannten Katzen-Ruhestandes. Wir ahnten nicht, wie schnell und brutal sich all diese rosigen Aussichten schon sehr bald in Luft auflösen würden. 

Deine umfangreiche Katzenwäsche ist mittlerweile beendet und du gehst in die nächste Ruhephase über. Du liegst immer noch im Croissant, doch deine Vorderbeine sind jetzt weit nach vorn ausgestreckt und dein Kopf ruht dazwischen, das Kinn auf der Couch abgelegt. Du blinzelst mich müde und zufrieden an und atmest tief durch. Dich so zu sehen ist das Entspannendste, was es überhaupt gibt, wirkungsvoller als jedes Autogene Training. Wie viele Male habe ich einfach so auf der Couch gesessen und dir beim Einschlafen zugesehen? Ich weiß es nicht, aber ich wünschte, ich könnte mich an jede einzelne Sekunde davon erinnern.

Genau hier, auf dieser Couch, entdeckte Dennis am Abend des 21. Juni 2021 beim Schmusen einen Knubbel an deinem Bauch, sehr weit vorne rechts in Richtung Achselhöhle. „Könnte vielleicht ein geschwollener Lymphknoten sein“, sagte er, klang aber zweifelnd. „Soll ich mal googeln?“, fragte ich besorgt. „Besser nicht“, sagte er, „du weißt doch, was dabei rauskommt, wenn man Knubbel googelt.“ Genau. Krebs. Statt zu googeln, vereinbarte ich also direkt am nächsten Tag einen Termin beim Tierarzt, der sofort hellhörig wurde und mich noch für denselben Nachmittag zu sich bestellte. „Das fühlt sich leider nach einem Tumor an“, sagte er ohne Umschweife, nachdem er dich abgetastet hatte. „Den sollten wir unbedingt herausholen und näher untersuchen.“ Eine Woche später stand die schwere Tumor-OP an. Obwohl alles auf ein bösartiges Krebsgeschwür hindeutete, klammerte ich mich an das letzte Restchen Hoffnung, dass es vielleicht doch ein seltener, gutartiger Tumor war, der entfernt werden konnte und alles war wieder gut. Als ich dich mittags nach der OP wieder abholen konnte, dämpfte der Tierarzt diese Hoffnung jedoch noch weiter: „Leider war der Tumor schon sehr groß, fast 4cm.“ Von außen war das nicht spürbar gewesen, dort hatte er sich wie ein kleines Knöpfchen, eher erbsengroß, angefühlt. Er war tief nach innen in Richtung deines Oberarmmuskels gewachsen. „Wir schicken die Probe ein, dann wissen wir mehr“, sagte der Tierarzt.

Wider Erwarten erholtest du dich nach der Operation erstaunlich schnell und gut. Der Tierarzt hatte mich noch vorgewarnt, dass die Wunde aufgrund des großen Schnitts und der ungünstigen Lage direkt unter der Achsel wahrscheinlich sehr schlecht heilen würde. Das Gegenteil war der Fall. Schon wenige Tage nach der OP sprangst und ranntest du wieder durchs Haus, auch wenn du das eigentlich noch gar nicht solltest. Eine energiegeladene Katze lässt sich aber eben nur schwer im Zaum halten – wie soll man einer Katze das Springen verbieten?! Der Arzt war beim Fädenziehen vom Heilungsfortschritt begeistert. Es war schon wieder ein zarter Flaum Fell nachgewachsen und die Narbe hell und glatt. Unsere Hoffnung auf ein gutartiges Geschwür wurde mit dem nun vorliegenden Bericht aus der Pathologie aber leider endgültig zunichte gemacht: Infiltrativ wachsendes Adenokarzinom der Mamma, also Brustkrebs. Eine der aggressivsten und tödlichsten Krebs-Formen bei Katzen überhaupt. Prognose: „sehr vorsichtig“. Immerhin: Metastasen in der Lunge waren auf dem Röntgenbild noch nicht zu erkennen. Der Arzt machte uns dennoch keine großen Hoffnungen. Wir sollten uns auf das Schlimmste einstellen, riet er. Tumoren dieser Art wachsen oft innerhalb weniger Wochen nach. Oder wandern zügig in die Lunge, selbst wenn jetzt noch keine Metastasen zu erkennen waren. Die Lebenserwartung betrug bei dieser Krebsart oft nur wenige Wochen bis Monate. „Beobachten Sie einfach weiter, wie es ihr geht“, riet unser Haus-Tierarzt. „Und achten Sie darauf, ob sie schlecht Luft bekommt.“ Viel mehr als abwarten konnten wir nicht. Wir vereinbarten einen Termin in einer Tierklinik spezialisiert auf Onkologie, um vielleicht mit einer Chemotherapie noch vorhandene Krebszellen zu zerstören, doch die Wartezeit betrug sechs Wochen.

Es hätte einfach ewig so weitergehen können. Aber das Schicksal hat anders entschieden.

Entgegen aller schlimmsten Befürchtungen kannte deine Lebensfreude in den Wochen nach der OP keine Grenzen mehr. Du warst ausgelassener und fröhlicher als je zuvor, so schien es. Fast jeden Tag schlepptest du Beute an, meist lebend, und wir ließen die armen Tierchen wieder frei. Wir schöpften große Hoffnung aus dieser positiven Entwicklung. Vielleicht war bei dir ja doch alles ganz anders und der Krebs war erst einmal zurückgedrängt?! Aus all der Perspektivlosigkeit und Verzweiflung erwuchs plötzlich eine neue, zarte Hoffnung, die uns Auftrieb gab. Doch eine Woche vor dem Termin in der Krebsklinik ging es dir plötzlich schlechter. Du hattest nicht mehr so viel Appetit wie sonst und zogst dich häufiger nach oben in Dennis‘ Büro zurück, ein Raum, den du bisher nie sonderlich beachtet hattest. Ein paar Tage später stellten wir fest, dass du nicht normal atmetest. Dein Atem ging viel zu schnell und wirkte angestrengt, es war nicht das ruhige, gleichmäßige Heben und Senken deines Brustkorbes, sondern eher ein angespanntes Pumpen. Am Montag vor dem Termin in der Onkologie hielt ich es nicht mehr aus und fuhr mit dir in eine Not-Tierklinik in der Nähe. Du wirktest jetzt regelrecht apathisch. Diagnose: Thoraxerguss, also Wasser im Brustkorb. „Das bedeutet, ihre Lunge wird zusammengedrückt und kann sich nicht mehr richtig entfalten“, erläuterte die Ärztin, die auch Kira hieß. „Darum atmet Kira jetzt mit der Bauchmuskulatur, um das auszugleichen und genügend Sauerstoff zu bekommen.“ Dann zeigte sie mir das Röntgenbild von deiner Lunge. „Hier sind auch einige Schatten zu erkennen“, sagte die Ärztin, „wahrscheinlich Metastasen.“ Der Krebs hatte also gestreut. Wie er es meist tat bei dieser aggressiven Krebsart. Die Ärztin spritzte dir Cortison und ein entwässerndes Mittel. Sie riet uns, den Termin in der Onkologie morgen dennoch wahrzunehmen. „Dennoch“ – das klang schon so, als ob es eigentlich keine Hoffnung mehr gäbe.

Ich streiche über dein glattes, glänzendes Fell und du fängst leise an zu schnurren. Bitte verzeih mir, dass ich dich in deinen letzten Tagen noch zu so vielen Ärzten geschleppt habe. Ich weiß, was für ein Stress das für dich war. Aber ich wollte nichts unversucht lassen, hörst du? Ich wollte, dass dir jemand hilft. Ich wollte, dass es dir besser geht. Verstehst du das? Zur Bestätigung kommt ein zartes, kaum hörbares Gurren. Dein Kira-Gurren. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. Ich verbuche es dennoch als Bestätigung. Also lese ich jetzt weiter.

Am nächsten Tag, einem Dienstag, fuhren wir wie geplant in die Onkologie der Tierklinik Hofheim. Die Ärztin nahm sich viel Zeit und untersuchte dich gründlich, auch ein weiteres Röntgenbild wurde gemacht. An der furchtbaren Diagnose konnte aber auch die Katzenkrebs-Expertin nichts mehr ändern. Sie erklärte mir, dass du für jeden weiteren Therapieversuch zu schwach und zu krank warst. Der Krebs hatte sich schon zu tief in deine kleine Lunge gefressen. „Diese Krebsart ist leider sehr, sehr aggressiv und streut fast immer in die Lunge. Bei Kira war der Tumor auch leider schon sehr groß“, erklärte die Ärztin mir noch einmal, was ich bereits wusste.  „Auch wenn wir direkt nach der OP mit einer Chemo begonnen hätten, hätten wir nicht viel Zeit gewinnen können.“ Sie gab mir einige Packungen Cortisontabletten. „Vielleicht hat sie damit noch ein paar ganz gute Tage.“ Tage. Es ging nur noch um Tage.

Die Cortisontabletten halfen dir leider nicht sonderlich. Im Gegenteil, jetzt kam zu deiner Appetitlosigkeit auch noch ein wässriger Durchfall alle paar Stunden hinzu. Trotzdem warst du immer noch unsere großartige, fröhliche Kira. Schwächer als sonst (du hattest mittlerweile Schwierigkeiten, die Treppe hochzukommen, über die du sonst immer so federleicht geschwebt warst), aber immer noch mit dem gleichen, munteren Blick, deinen hellgrünen, wachen Augen, den wie zu einem Lächeln nach oben gezogenen schwarzen Lippen… Du wolltest auch immer noch hinaus in dein Revier und ich brachte es nicht über das Herz, dir diesen Wunsch auszuschlagen. Auch wenn ich wirklich Angst davor hatte, dass du irgendwo draußen im hohen Gras vor Erschöpfung zusammenbrechen und es nicht mehr nach Hause schaffen würdest. Aber sollte ich meine arme, todkranke Katze jetzt auch noch einsperren? Nein, das ging nicht. Du zogst langsam deine Runden durch dein Revier, tapfer und kämpferisch wie eh und je. So warst du eben, stolz wie eine Tigerin. Deine körperliche und mentale Stärke angesichts deines desolaten Zustands war einfach nur bewundernswert.

Selbst mit störendem Body nach der Tumor-OP war Katzen-Yoga noch möglich.

Am Donnerstag der gleichen Woche ließen wir eine mobile Tierärztin kommen, um uns eine weitere Meinung einzuholen. Dich in die Transportbox zu stecken und erneut in eine Klinik zu fahren, wäre angesichts deiner Atemnot und der Durchfälle eine zu hohe Belastung gewesen. „Ich würde nicht mehr bis nächste Woche warten“, sagte die Tierärztin, nachdem sie dich gründlich abgehört hatte. „Sie hat jetzt schon Atemprobleme und bei einem Thoraxerguss kann sich der Zustand sehr schnell sehr stark verschlechtern. Dann würde sie qualvoll ersticken“, sprach sie die knallharte Wahrheit aus, ohne zu beschönigen. Sie schlug vor, am Samstagmittag zu kommen, um dich hier zu Hause in deiner gewohnten Umgebung zu erlösen. Es klingt komisch, aber bei aller Trauer und Verzweiflung empfand ich beim Vereinbaren dieses Termins auch so etwas wie eine diffuse Erleichterung. Ich spürte ja, wie sehr du schon jetzt leiden musstest. Und dass es keine Aussicht auf Heilung mehr gab. Deine Erlösung war die einzig richtige, humane Entscheidung. Bald würdest du es überstanden haben, meine kleine tapfere Kämpferin.

Doch am Morgen des 4. September, an deinem geplanten Todestag, kamen mir auf einmal große Zweifel. Was, wenn wir doch einen schrecklichen Fehler begangen hatten? Du wirktest heute munterer und kräftiger als an den Tagen zuvor. Der Durchfall hatte vor etwa 24 Stunden aufgehört und du hattest einen verhältnismäßig guten Appetit. Deine Bewegungen waren nach wie vor langsamer als gewöhnlich und dein Atem ging schnell und pumpend, doch deine Augen waren groß und wach, dein Gesicht offen, freundlich und fröhlich, so wie wir es von dir gewohnt waren. Alles in mir zog sich zu einem einzigen schmerzhaften Krampf zusammen, während ich dich dabei beobachtete, wie du dich an der Terrassentür hochstrecktest, weil du unbedingt hinaus in dein Revier wolltest. Verständnislos darüber, warum du heute eingesperrt bleiben musstest, schauten mich deine großen, hellgrünen Augen flehend an. „Ich kann doch nicht meine Katze umbringen lassen!“, dachte ich und spürte die Panik in mir aufsteigen wie einen eisigen, wandernden Gletscher, „diese wunderbare, perfekte Katze, die auf den ersten Blick völlig gesund und munter aussieht? Das ist doch Mord! Einfach Mord!“ Ich verspürte das dringende Bedürfnis, dich in die Box zu stecken und mit dir wegzufahren, irgendwohin, dich einfach nur in Sicherheit zu bringen, es war doch meine Pflicht, oder? Ich musste dich schützen. Vor uns. Wir waren Monster. Monster!!! Und gleichzeitig war ich wie gelähmt und völlig außer Stande, auch nur irgendetwas zu unternehmen.

Der Vormittag kroch mühsam dahin, ich wandelte wie in einer Art Trance durchs Haus, überprüfte jede Uhr in jedem Zimmer. Sie alle gingen zu langsam, es konnte einfach nicht sein, dass sich ein Vormittag jemals so sehr in die Länge gezogen hatte. Ich fühlte mich wie beim Warten auf das Jüngste Gericht. Als wärst nicht du diejenige, die hingerichtet werden sollte, sondern ich selbst. Irgendwann kam ein Anruf. Die Tierärztin kündigte sich für zwanzig vor eins an. Jetzt wurde es hektisch, denn du saßt ganz hinten im Schrank, als ahntest du armes Ding jetzt doch, was dir bevorstand. Jede Art von Hektik und Stress hatte ich eigentlich vermeiden wollen, dir zuliebe, doch zu spät, beide waren längst da, brachen über mir zusammen wie eine riesige Flutwelle. Ich zog dich aus dem Schrank und drückte dich fest an mich, meine Unruhe übertrug sich auf dich, je mehr ich versuchte, die Angst und die Panik in mir herunterzuschlucken. Ich zitterte längst unkontrolliert und mir war so schlecht, dass ich ernsthaft überlegte, ob ich nicht vielleicht einen Eimer brauchen würde. Ich hätte mich in diesem Augenblick ritterlicher verhalten müssen, und glaub mir, ich habe es versucht. Aber nichts und niemand kann einen auf diese Ausnahmesituation vorbereiten. Ich fühlte mich wie die Mörderin meiner eigenen, geliebten Katze.

Autsch! Deine Vorderpfoten sind ganz plötzlich nach vorn geschnellt und haben meinen großen Zeh in den Klammergriff genommen. Nicht so fest, dass du mich ernsthaft verletzen würdest, aber doch deutlich genug, um mir zu sagen: „Du redest doch Unsinn, dummer Mensch!“ Ich weiß Kira, ich weiß. Ich habe dich nicht ermordet und ich weiß auch, dass du das weißt. Aber es fühlt sich so verdammt danach an… jetzt beißt du sanft in meinen Zeh, eher ein Knappen, es ist erstaunlich, wie gezielt und gefühlvoll ihr eure scharfen Reißzähnchen einsetzen könnt. Okay, okay, ich höre schon auf mit diesen Selbstvorwürfen, einverstanden? Lässt du dann von mir ab? Einen Moment lang behältst du meinen Zeh umklammert und schaust mich misstrauisch an, dann fährst du deine Krallen langsam ein und deine Pfoten werden wieder rundum samtig. Du ziehst sie zurück unter deinen Körper, verschränkst sie dort und leckst dir das Mäulchen. Dein tanzender Schwanz verrät, dass du jeden Moment zu einer neuen Attacke bereit sein könntest, sollte ich weiter Unsinn erzählen. Also gut. Keine Selbstvorwürfe mehr. Während ich weiterlese, legst du deinen Kopf wieder zufrieden ab und der Schwanz kommt zur Ruhe.

Ich weiß, ich habe dich nicht ermordet. Aber es fühlt sich danach an.

„Ihr Atem rasselt schon sehr stark“, sagte die Tierärztin, nachdem sie dich nochmal abgehört hatte. „Es ist die richtige Entscheidung, sie jetzt zu erlösen und ihr noch mehr Qualen zu ersparen.“ Die richtige Entscheidung?! Wieso fühlte sie sich dann so falsch an? Ich schluckte meine Übelkeit mühsam hinunter. Die Tierärztin gab dir als erstes eine Beruhigungsspritze, gegen die du dich nach Kräften wehrtest, wie du es auch sonst immer bei Impfungen getan hattest. Doch das Mittel schien rasch zu wirken: Du saßt jetzt ganz ruhig auf meinem Schreibtischstuhl und wir streichelten und bürsteten dich liebevoll, während deine Äuglein langsam zufielen. „Als nächstes bekommt sie ein Narkosemittel“, erklärte die Ärztin, während sie eine weitere Spritze aufzog. Ich hielt dich nur sanft im Nacken fest, als sich die Nadel deinem Körper näherte, da wir dachten, du wärst eh schon halb weggedämmert. Doch falsch gedacht. Selbst jetzt noch warst du eine tapfere Kriegerin. Dein schwacher Körper entfaltete noch einmal ungeahnte Kräfte. Du befreitest dich aus meinem lockeren Griff und machtest einen Satz quer durchs ganze Zimmer, fauchend und knurrend. Es war furchtbar, dich so zu sehen. Du wolltest nicht sterben, das wurde mir in diesem Augenblick noch einmal ganz klar. Du wolltest leben. Aber was wäre ich für eine Katzenhalterin, was wäre ich für eine beste Freundin, wenn ich dich noch ein paar Stunden oder Tage länger leben lassen würde, nur damit du dann qualvoll ersticken müsstest? Ich wusste, dass ich das nicht mit ansehen konnte. Aber das, was sich jetzt gerade abspielte, konnte ich eigentlich genauso wenig mit ansehen. Ich hatte mir den Begriff „Einschläfern“ irgendwie immer friedlicher vorgestellt. Die Szenerie hier glich eher einem Kampf um Leben und Tod. Ich hatte dir jeglichen Stress ersparen wollen. Es tut mir leid, dass ich nicht besser darin gewesen bin. Die Narkose wirkte jetzt, endlich. Du warst in einem letzten Anflug von Lebensenergie auf die Fensterbank gesprungen und hattest dich dort seitlich hingelegt. Dein Hinterbeinchen sank jetzt immer weiter herab, du schliefst ein. Dennis nahm dich hoch und legte dich auf meinen Schoß. Wir streichelten dich und beobachteten dein schweres, pumpendes Atmen, das immer langsamer wurde.

„Das hier ist die letzte Spritze“, sagte die Ärztin, während sie eine besonders große Ampulle aufzog. „Du bist so tapfer, mein Mädchen“, hauchte ich dir zu, während die Ärztin die Spritze an deinem Hinterleib ansetzte. „Mein liebes, tapferes Mädchen. Bitte verzeih mir. Bitte verzeih mir. Bitte verzeih mir.“ Ich wiederholte diesen Satz wie ein Mantra, während dein Atem immer flacher wurde. Dann hob und senkte sich dein Bauch nicht mehr. „Ihr Herz schlägt noch, ganz schnell“, sagte Dennis, der die Hand auf deiner Brust hatte. Es war 13.04 Uhr, als schließlich auch dein Herzchen stillstand. „Sie hat es geschafft“, flüsterte die Tierärztin, als sie dich ein letztes Mal abgehört hatte. „Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen. Ich finde allein raus.“ Sie packte ein und verschwand. Und wir saßen da mit unserer wunderschönen, aber toten Katze auf dem Schoß. Du warst auf einmal sehr schwer. Sehr viel schwerer als du lebend jemals gewesen warst. Deine Augen standen leicht offen und die Zunge hing dir aus dem Mäulchen. Ich saß einfach nur da und konnte nichts, nicht einmal weinen, während Dennis an meine Schulter gelehnt heftig weinte. Nach ein paar Minuten, oder Stunden, oder Tagen oder Wochen, ich weiß es nicht, denn Zeit spielte keine Rolle mehr, nahm Dennis dich vorsichtig hoch und legte dich in deine Box. Dein Körper zuckte – letzte Muskelregungen, die nichts mehr mit Leben zu tun hatten. Dennoch verstörten sie mich derartig, dass ich das Zimmer sofort verlassen musste, da ich den Eindruck hatte, zu ersticken.

Bis zum letzten Atemzug – für immer.

Ich ging hinunter und rief das Tierkrematorium in Darmstadt an, das wir uns vorab herausgesucht hatten. Meine Finger zitterten nicht mehr, als ich die Nummer wählte, aber ich spürte auch sonst nichts, funktionierte wie ein Roboter. Am anderen Ende meldete sich eine freundliche, fröhliche Frauenstimme. „Meine Katze musste eben eingeschläfert werden und ich wollte fragen, ob wir sie gleich vorbeibringen können“, hörte ich mich selbst sagen, als würde ich eine Ansage vom Band abspielen.
„Aber natürlich, wir sind immer da. Für 14 Uhr habe ich schon einen anderen Termin. Sie könnten aber gegen 14.30 Uhr da sein, gerne auch etwas später. Ich weiß Bescheid, dass Sie kommen.“ Die Frau sprach locker und melodisch, so als würden wir uns zum Kaffeetrinken verabreden. Ich weiß nicht, ob ich darüber irritiert war oder ob es mir vielleicht sogar half. Mitarbeiter eines Tierkrematoriums konnten schließlich nicht bei jedem Anruf selbst in Tränen ausbrechen. Hatte ich das etwa erwartet? Keine Ahnung.
„Okay. Muss ich bis dahin irgendwas beachten?“, fragte meine Roboterstimme.
„Es ist ein heißer Tag heute“, sagte die Frauenstimme im Wetter-Plauderton, „es wäre gut, wenn Sie sie noch eine Weile in den Keller oder an einen anderen kühleren Ort stellen könnten.“
„Ja, okay“, antwortete die Roboter-Meike, „wir stellen sie in den Keller.“
Dennis trug die Box mit dir in den Keller. Ich musste den Blick abwenden. Ich wollte nicht sehen, ob dein Körper immer noch zuckte. Und ganz bestimmt wollte ich auf gar keinen Fall, dass wir dich im Tierkrematorium noch einmal aufgebahrt sehen. Ich hatte auf der Webseite des Tierbestatters etwas von einem Abschiedsraum gelesen. Ich war mir zu 100 Prozent sicher, dass ich das nicht wollte. Der Anblick deines schlaffen Körpers auf meinem Schoß mit der heraushängenden Zunge hatte sich in meine Netzhaut eingebrannt. Ich befürchtete schon jetzt, dass diese schrecklichen Bilder all die schönen und lebendigen Erinnerungen der letzten Jahre beschädigen, vielleicht sogar überlagern würden.

Du standest also im Keller. Dennis und ich schmierten uns lustlos ein halbes Brötchen, wir hatten den ganzen Tag noch keinen Bissen gegessen. Mein Körper verlangte nach Nahrung, ohne Hunger zu verspüren. Ich kaute auf dem Brötchen rum wie auf einem Stück Pappkarton. Um kurz nach zwei machten wir uns auf den Weg. „Wir machen einen kleinen Ausflug, Kira“, hatte ich immer zu dir gesagt, wenn ich mit dir zum Tierarzt fahren musste. Du warst eine unkomplizierte Transport-Katze gewesen, hattest dein Köpfchen stets neugierig gegen das Gitter gedrückt und herumgeschnuppert. Jetzt saß ich neben deiner Box auf dem Rücksitz, die Gittertür hatten wir nicht einmal eingesetzt. Warum auch? Du würdest nicht mehr herauskommen. Wir hatten dich mit deiner Lieblings-Schmusedecke abgedeckt. Ich saß neben dir auf der Rückbank wie neben einem Fremdkörper. Die Vorstellung, dass du wirklich tot unter der Decke lagst, kam mir abstrakt und unwirklich vor. Ich traute mich aber auch irgendwie nicht, nachzuschauen.

Im Tierkrematorium wurden wir freundlich empfangen. Die Dame, mit der ich auch telefoniert hatte, nahm die Transportbox entgegen. „Ich bahre sie Ihnen noch einmal auf, dann können Sie sich von ihr verabschieden“, sagte sie, und schon ging sie nach nebenan ins Abschiedszimmer. Um Himmels willen, nein, dachte ich noch, doch ein Teil von mir war immer noch Roboter-Meike. Meine Beine trugen mich wie ferngesteuert in den Abschiedsraum, um meine Katze ein allerletztes Mal zu sehen. Ich bin nicht religiös und schon vor Jahren aus der Kirche ausgetreten, aber um zu beschreiben, wie du dort lagst, muss ich leider auf ein abgenutztes, christliches Klischee-Bild zurückgreifen: Du lagst dort wie ein kleiner Engel. Es gibt kein anderes, passenderes Wort dafür. Halb auf dem Rücken liegend, sanft eingewickelt in deine Lieblingsdecke wie ein Baby. Deine Vorderpfötchen lagen liebevoll neben deinem kleinen, schmalen Gesicht. Augen und Mäulchen waren jetzt friedlich geschlossen. Dein Körper war auf einer Art Altar gebettet, umgeben von Blumengestecke und Rosen, und an der Wand über dir prangte ein riesiges Gemälde einer bunten Regenbogenbrücke. Du sahst so wunderschön aus, jung, unschuldig und unversehrt, fast so, als wolltest du uns jeden Moment putzmunter entgegenspringen. Auch wenn es kitschig klingt: Ich habe vielleicht noch nie zuvor etwas so Schönes und Friedliches gesehen.

Jaja, schon gut, jetzt höre ich auf mit diesen blumigen Beschreibungen, die aus einem Schundroman stammen könnten und von denen einem ganz übel wird. Ich kann dein leicht genervtes Blinzeln schon richtig deuten, als du ein wenig den Kopf hebst und mich grimmig ansiehst.

Wir streichelten ein letztes Mal dein flauschiges Fell. Du fühltest dich schon ziemlich kalt an und dein Näschen war trocken. Trotzdem schien es komischerweise so, als sei jetzt mehr Leben in dir als vorhin auf meinem Schoß, wenige Sekunden nachdem dein Herz aufgehört hatte zu schlagen. Ich war froh, dass dies das letzte Bild von dir war, das sich in meine Netzhaut einbrennen würde – nicht dein zuckender Körper zu Hause. Jetzt konnte ich dich loslassen, weil ich wusste, dass du deinen Frieden gefunden hattest. Die Aufbahrung war doch keine so schlechte Idee gewesen.

Ich weiß nicht, ob es so etwas wie einen Katzenhimmel gibt. Man sagt solche Dinge immer, um sich selbst zu trösten, aber eigentlich sind sie nur religiöse Folklore. Doch wenige Tage vor deinem Tod hatte ich einen Traum von einem Ort, der mir eine Idee davon gab, wie ein Katzenhimmel aussehen könnte. Ich befand mich in einer Stadt, die ausschließlich aus Kratzbäumen und Katzenhöhlen errichtet war. Manche ragten wie Wolkenkratzer viele hunderte Meter in den Himmel. Andere waren dick wie Mammutbäume in allen nur erdenklichen Farben. Es gab Brücken und Leitern, die die „Gebäude“ miteinander verbanden. Ich konnte nicht überblicken, wie groß diese Stadt war, sie schien unendlich. Aber es war niemand hier und es war ganz still, so still wie es sonst nur in einer Wüste ist. Plötzlich kamst du mir entgegengesprungen, fröhlich gurrend und dein Näschen zum Gruß weit nach vorn ausgestreckt. Ich träumte nur diese eine, kurze Szene, dann wachte ich auf und die schreckliche Wirklichkeit, dass du mich verlassen würdest, lag wie eine Bleikugel in meinem Magen. Aber vielleicht bist du jetzt an diesem Ort, den ich im Traum gesehen habe. In deiner eigenen, unendlichen Stadt aus Plüsch und Sisal.

Diese Vorstellung scheint dir sehr zu gefallen. Du drehst dich auf den Rücken, verdreht wie ein Fragezeichen, und streckst mir dein flauschiges, schwarz gepunktetes Bäuchlein zum Kraulen entgegen. Aus dieser Perspektive siehst du immer aus wie ein Mini-Gepard. Es fühlt sich an, als würde man direkt in eine Wattewolke hineingreifen, wenn man die Finger in deinem dichten Pelz vergräbt. Ach Kira, wie soll ich das alles je ohne dich schaffen!

Verdreht wie ein Fragezeichen. Und der Bauch so weich, als würde man in eine Wattewolke hineingreifen.

Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass uns noch ein paar mehr gemeinsame Jahre auf diesem Planeten vergönnt gewesen wären. Unsere gemeinsame Geschichte fühlt sich einfach noch nicht „fertig“ an – sie wurde jäh unterbrochen, einfach abgehackt. Ich habe große Angst, dass ich die vielen kleinen Details, die unser Zusammenleben erst so besonders und einzigartig gemacht haben, mit der Zeit vergessen werde. Dein zartes, helles Gurren, mit dem du damals schon im Tierheim auf dich aufmerksam machtest. Die vielen Schattierungen und Farbmuster in deinem Fell, die je nach Lichteinfall anders schimmerten und an denen wir uns nie satt sehen konnten. Wie gut und flauschig diese Stelle an deinem Köpfchen geduftet hat, der kleine Bereich genau zwischen rechtem Ohr und Auge. Der Gedanke daran, dass all diese Erinnerungen verblassen werden, macht mich gerade schier wahnsinnig. Noch schaffe ich es nicht, die Abdrücke deines Näschens von den Fensterscheiben zu wischen, denn es wäre das letzte Mal, dass ich deine Nasenabdrücke wegwische. Noch schaffe ich es nicht, die vielen Haare von deinem Lieblings-Stuhl im Esszimmer zu saugen, denn es wäre ja das letzte Mal, dass ich sie wegsauge. Es würde sich falsch anfühlen, so als würde ich dadurch das Vergessen noch beschleunigen. Also bleiben deine Spuren erst einmal zurück, sichtbar an Fensterscheiben und auf Sitzbezügen und unsichtbar, aber so viel tiefer in unseren Herzen. Ich weiß nicht, ob ich je wieder bereit bin für eine neue Katze.

Autsch, wieder mein Zeh in deinem Klammergriff. Willst du mir etwa sagen, ich soll eine neue Katze haben? Aber keine wird je so sein wie du, Kira! Ich würde alle immer nur mit dir vergleichen und dagegen könnten sie nur abstinken, zu 100 Prozent! Eine Seelenkatze kann man doch nur ein einziges Mal im Leben haben, oder? Autsch, okay, du siehst das anscheinend anders. Aber noch nicht, in Ordnung? Ich weiß nicht, wann ich zu diesem Schritt bereit bin, aber ich verspreche dir, dass ich mich damit auseinandersetzen werde, wenn ich soweit bin. Ist das ein Kompromiss? Dein Klammergriff lockert sich. Jetzt leckt deine kleine, rosafarbene, raue Zunge meinen Zeh liebevoll, von oben bis unten und wieder zurück. Also lese ich weiter.

Noch sind die Trauer und die Wut über deinen zu frühen Verlust und über dein Leiden zu frisch, um etwas anderes als Schmerz zu empfinden. Du hast all das nicht verdient. Es ist so unfair. Es ist so brutal. Und darüber bin ich so wütend auf das Universum oder auf wen auch immer, der das zu verantworten hat. Ich weiß aber, dass der Schmerz irgendwann, vielleicht in Wochen, vielleicht in Monaten, einem Gefühl der Dankbarkeit weichen wird. Wenn der Schmerz, den ich jetzt empfinde, der Preis für die vielen fröhlichen Jahre und wunderbaren Momente mit dir ist, bin ich gerne bereit, ihn zu bezahlen. Eines jedenfalls steht fest: An jenem Wintermorgen des Jahres 2012 vom Parkplatz der Zeitungsredaktion aus im Tierheim anzurufen und zu fragen: „Ist die Veltine noch da?“ war eine der besten Entscheidungen meines Lebens.

Ich liebe und vermisse dich so sehr, mein kleiner Schatz. Dein Menschlein: Meike

Mein Brief ist zu Ende. Es gibt nichts mehr vorzulesen. Ich schaue von meinen Notizen hoch und du bist nicht mehr da.

Copyright Text und Fotos: Meike Mittmeyer-Riehl, 2021

Morgen machen sie bestimmt auf

Yassin spürt den Boden unter sich schwanken, als wäre er noch immer da draußen auf dem tosenden Meer. Dabei war ihre Ankunft jetzt schon fast einen Tag her. „Das hört noch auf“, hatte Papa gesagt. „Dein Gleichgewichtssinn im Ohr ist noch durcheinander.“ Um dem Gleichgewichtssinn in seinem Ohr auf die Sprünge zu helfen, steckte sich Yassin jetzt manchmal beide Zeigefinger in die Ohren. Das hatte noch einen anderen Vorteil: Es wurde endlich still. Denn der Ort, an dem sie angekommen waren, war furchtbar laut. Sie hatten ein kleines Zelt bekommen inmitten einer riesigen Stadt, die nur aus Zelten zu bestehen schien. Zelten und Pfützen und Matsch und Schlamm, denn es regnete viel. Irgendwie hatte er es sich immer anders vorgestellt, dieses Europa. „Es gibt keinen Krieg in Europa“, hatte Papa gesagt. „Wir müssen nach Europa gehen. Zuhause ist es nicht mehr sicher.“
Zuhause.

Manchmal schloss Yassin die Augen und atmete tief ein, dann hatte er das Gefühl, als könne er noch immer die warme, würzige Brise der Olivenplantagen riechen, die der Wind zu ihrem kleinen Haus am Hang hinauftrug, gemischt mit dem köstlichen Duft des frischen, auf Stein gebackenen Brots seiner Oma. Die Illusion hielt immer nur wenige Sekunden, ehe die Erinnerung an diese Gerüche vom beißenden Gestank nach Schlamm, Urin, modrigem Stoff und Schweiß überdeckt wurde, der hier im Camp herrschte. Wieso konnte man sich Gerüche eines bestimmten Ortes nicht mitnehmen wie ein Foto und jederzeit aus der Tasche holen, wenn man sie brauchte? Fotos von Yassins Mama, seiner kleinen Schwester und seiner Oma hatte Papa auf dem Handy. Sogar ein Foto der Olivenplantagen und von Omas Steinofen war darauf. Aber die Düfte von Zuhause, die hatten sie zurücklassen müssen. Yassin griff in seine Hosentasche, wie um zu überprüfen, ob dort eine kleine Spur der Gerüche von Zuhause zu finden war. Doch er fand nur ein bisschen Sand vom Strand, an dem sie mit dem Boot angekommen waren. Wie würde das eigentlich aussehen, ein Geruchsfoto?

Darüber dachte Yassin nach, als er in den kalten Nächten neben Papa im Zelt lag und vor Kälte schlotterte. Sein Schlafsack war völlig durchnässt und obwohl Papas Körperwärme gut tat, konnte er nicht aufhören zu zittern. Und er dachte auch an Mama und seine kleine Schwester und daran, wo sie jetzt wohl waren. Der Regen prasselte auf die dünne Zeltplane über ihnen.

„Das ist alles nur vorübergehend“, sagte Papa fast jeden Abend und Yassin spürte, dass auch er etwas zitterte vor Kälte. Er gab sich aber Mühe, sich das nicht anmerken zu lassen und schloss seinen kleinen Sohn noch etwas enger in die Arme. „Europa kann uns im Moment nicht reinlassen, weißt du? Wegen der Seuche. Sie haben ihre Türen vorübergehend zugemacht.“ Er versuchte, möglichst zuversichtlich dabei zu klingen, doch Yassin wusste, dass er oft traurig war. Yassin wollte nicht, dass sein Papa traurig war. Er unterdrückte mit Mühe ein Zähneklappern und sagte: „Ich weiß, Papa. Morgen machen sie bestimmt auf.“

Auch Mirko hörte den Regen über sich prasseln. Viel gedämpfter und weiter weg als Yassin. Der Regen tröpfelte gleichmäßig auf das Dach eines Hauses, viele hunderte Kilometer weit entfernt vom Camp. Mirko hatte keine Ahnung, dass es das Camp gab. Oder Yassin. Die beiden waren sich nie begegnet und würden es im Laufe ihrer hoffentlich noch langen Leben vermutlich auch nie tun. Ohne es zu wissen, war Mirko auf den Tag genauso alt wie Yassin, acht Jahre. Er lag in seinem warmen, weichen Bett, kuschelte sich noch tiefer in seine Lieblings-Fußballbettwäsche und sah den tanzenden Leuchtsternen an Decke und Wänden seines Zimmers zu, die ein Sternenprojektor dorthin warf. Er hatte ihn zu Weihnachten bekommen. Das war lange her.

„Hey, du bist ja noch wach, kleiner Mann.“ Mama steckte den Kopf zur Tür herein. Auch über ihr Gesicht tanzten ein paar Sterne und er konnte erkennen, dass sie müde lächelte. Früher war sie manchmal böse gewesen, wenn er abends zu lange wach geblieben war. Früher, bevor diese Krankheit in die Welt gekommen war. Jetzt war sie deshalb nicht mehr böse, denn es war ja nicht so wichtig, wann er einschlief. Die Schule hatte geschlossen.
„Mama, wann darf ich wieder Fußball spielen?“, fragte Mirko leise.
„Ach Schatz.“ Seine Mutter kam jetzt ins Zimmer und setzte sich zu ihm an die Bettkante. Sie strich ihm das Haar aus der Stirn wie sie es immer tat, wenn sie ihm etwas sagen musste, das er nicht gern hören wollte. „Es ist nur vorübergehend wegen dieser Krankheit, weißt du? Wir müssen alle aufpassen, dass wir uns nicht anstecken. Darum hat dein Fußballtraining geschlossen und die Schule und-“
„Und deine Arbeit auch“, ergänzte Mirko. Sie hatten das gleiche Gespräch in den vergangenen Wochen schon dutzende Male geführt, es war beinahe so, als spielten sie beide in einem Theaterstück mit und sagten nur ihre einstudierten Rollen auf.
„Ja. Das Restaurant, in dem ich arbeite, auch.“ Mama lächelte. Aber sie lächelte nur in ihrer Rolle. In Wahrheit wusste Mirko, dass sie oft traurig war. Sehr traurig sogar. Einmal war er ins Bad gegangen und sie stand über das Waschbecken gebeugt und weinte. Später hatte sie ihm versichert, sie habe sich nur das Gesicht gewaschen, darum habe es feucht gewirkt. Aber Mirko wusste, dass sie gelogen hatte. Sie hatte geweint. Weil sie Angst hatte, dass sie ihre Arbeit verlor. Sie brauchte ihre Arbeit, denn sie und Mirko waren allein. Sie hatte Angst, ihm irgendwann nicht mehr so tolle Sachen wie einen Sternenprojektor zu Weihnachten schenken zu können, das wusste er.
Mirko wollte nicht, dass seine Mutter traurig war. „Morgen machen sie bestimmt wieder auf, Mama“, sagte er.
Seine Mutter strich ihm noch einmal über die Stirn und nickte. „Ich bin mir ganz sicher, dass der Tag kommen wird, an dem du Recht hast.“

Yassin hatte immer gedacht, dass es in einem Land, in dem es keinen Krieg gibt, bestimmt auch keine Waffen gab. Doch als sie angekommen waren, hatte er viele Männer mit Waffen gesehen. Es waren Soldaten gewesen mit finsteren Gesichtern und großen Maschinengewehren. Yassin kannte solche Waffen auch von Zuhause. Dort hatte der Krieg lange vor seiner Geburt angefangen. Er wusste gar nicht, wie ein solches Land aussehen sollte: ohne Krieg. Jedenfalls hatte er es sich ganz anders vorgestellt als den Ort, an dem sie gelandet waren.

Wenn es für ein paar Stunden mal nicht regnete, streifte Yassin durchs Camp und spielte Fußball mit allem, was er auf dem Boden fand. Und dort fand er jede Menge: Blechdosen, kaputte Eimer, Plastiktüten, Bananenschalen. Bei einem seiner Streifzüge fand er ganz am Rande des Lagers in einer Ecke des Zauns einen Ort, von dem aus er das Meer sehen konnte. Es war halb verdeckt von Gebäuden, Bäumen und Mauern, doch einen Teil konnte er erkennen. Vielleicht würde er seine Mama und seine kleine Schwester ankommen sehen. Sie waren gemeinsam von Zuhause gestartet, doch in der Nacht, als sie die Boote nach Europa besteigen sollten, waren sie getrennt worden. „Die Frauen müssen in ein anderes Boot“, hatte jemand gebrüllt. „Die Frauen da rüber, los!“ Leute hatten geschrien, Babys geweint. Seine kleine Schwester wahrscheinlich auch, ganz genau hatte er es nicht raushören können. Aber sie war ja erst vier.
„Geh mit Papa, Yassin“, hatte seine Mutter ihm gesagt, als er sich nicht von ihrer Hand lösen wollte. Sie musste sich regelrecht aus seiner Umklammerung herauswinden. „Geh mit Papa. Wir beide kommen nach. Wir sind im Boot direkt hinter euch. Wir sehen uns in Europa.“ Dann hatte ihn jemand auf das Boot gezerrt, es wackelte und schaukelte und schon waren sie auf dem Wasser. Es war stockdunkel und er konnte den Strand bald nicht mehr sehen. Allerdings war er sich ziemlich sicher, dass das Boot mit Mama und seiner Schwester ihnen nicht gefolgt war.

Manchmal stand Mirko auf ihrem kleinen Balkon und ließ seinen Fußball von Knie zu Knie springen. Hin her. Hin her. Hin her. Unten auf der belebten Straße rauschten die Autos vorbei, aber es waren viel weniger als früher. Manchmal herrschte sogar eine geradezu dumpfe Stille, die er von hier überhaupt nicht gewohnt war. Wenn er keine Lust mehr hatte, mit dem Ball zu spielen, schaute er einfach hinunter auf die Straße und zählte Autos oder sortierte sie nach Farben oder Marken. Irgendwo dort in der Ferne, vom Balkon aus nicht sichtbar, lag der Fußballplatz seines Vereins leer und verlassen da. Wer kümmerte sich eigentlich um den Rasen, jetzt, wo niemand hinaus durfte?
„Hey, Kleiner“, rief plötzlich eine Stimme, die Mirko noch nie gehört hatte. Sie kam vom Balkon nebenan. Da stand ein alter Mann über das Geländer seines Balkons gebeugt und sah lächelnd zu ihm herüber. Er musste sehr alt sein, denn sein Gesicht war so faltig wie eine der vergilbten Landkarten, die Mama vor Jahren ins Handschuhfach ihres Autos gestopft hatte.
„Schieß doch mal rüber, komm!“, rief der Alte.
Mirko starrte ihn irritiert an. Nie zuvor war ihm dieser Mann aufgefallen, obwohl er doch offenbar ihr direkter Nachbar war. Mama sagte immer, er solle nicht mit Fremden sprechen. Doch dieser faltige alte Mann, an dessen dürrer Figur die Kleidung herunterhing wie ein Sack, konnte doch nun wirklich nichts Böses im Schilde führen. Oder?
„Ich – ich weiß nicht“, antwortete Mirko stockend und hielt sich an seinem Fußball fest.
„Ich war mal ein echter Torhüter, weißt du“, sagte der Alte. „Ich könnte mal wieder ein bisschen Training gebrauchen. Meine Knochen sind ganz eingerostet.“
„Ja, meine auch“, murmelte Mirko.
„Na komm, dann probier’s doch mal! Das ist wie beim Torwandschießen. Ich bin die Torwand.“
Mirko zögerte noch, doch die Lust, den Ball zu treten, war stärker als seine Zweifel. Er legte sich den Ball zurecht und kickte ihn mit wenig Kraft – denn weit war es nicht bis zum nächsten Balkon – in Richtung des Alten.
Der sprang agil wie eine Gazelle nach dem Ball und fischte ihn aus der Luft. Seine Knochen wirkten alles andere als eingerostet. „Klasse. Und jetzt du.“ Sein Schuss kam sanft, aber präzise. So ging es eine ganze Weile hin und her.

Eines Tages war das Camp von beißendem Brandgeruch erfüllt. Alle waren sehr aufgeregt, liefen und redeten wild durcheinander. In einem anderen Teil des Lagers hatte es gebrannt. Wenig später gingen kleine Ascheflöckchen über den Zelten nieder. Yassin und ein paar andere Kinder sprangen und hüpften begeistert danach, als seien sie Schneeflocken, doch die Erwachsenen pfiffen sie sofort zurück. Sie alle wirkten angespannt und sorgenvoll. Man erzählte sich, dass es in einem anderen, noch viel größeren Lager nicht weit von hier entfernt einen noch viel größeren Brand gegeben hatte. Vielleicht stammte die meiste Asche sogar von dort. Dunkle Rauchschwaden zogen über sie hinweg und tauchten die triste Camp-Szenerie in ein dumpfes, unwirkliches Licht. Als müsste die Sonne durch einen dichten Vorhang hindurch scheinen.

Yassin und sein Vater packten die wenigen Habseligkeiten, die sie in ihrem Zelt lagerten, in löchrige Stoffbeutel. „Wir müssen das Lager vielleicht verlassen, Yassin“, erklärte Papa ruhig, während er seinen Schafsack zusammenrollte.
„Und wo gehen wir dann hin, Papa? Hat Europa seine Türen jetzt wieder aufgemacht?“
Aber Papa antwortete nicht.
Sie verließen das Lager doch nicht. Das Feuer hatte offenbar gelöscht werden können und man ließ niemanden hinaus. Der Brandgeruch stand noch mehrere Tage lang in der Luft. Er verfolgte Yassin sogar wie ein böser Geist bis in den Schlaf. Da sah er sich manchmal aus der Vogelperspektive durch die unendlichen Olivenplantagen seiner Heimat rennen, seine kleine Schwester an der Hand mit sich zerrend. Doch so tief und inbrünstig er den warmen Wind auch einatmete, er roch nur Feuer, Asche und Rauch. Eines Nachts fuhr Yassin schweißgebadet aus einem Traum wie diesem hoch, die Augen vor Schreck geweitet. Seine Nase war erfüllt vom Gestank des Brandes, er erstickte beinahe daran. Dieser Gestank hatte alles überlagert, was jemals zuvor mit seiner Nase in Berührung gekommen war. Den würzigen Duft des Windes in den Olivenplantagen seiner Heimat hatte er vergessen.

Auch in den nächsten Tagen ging Mirko immer mal wieder auf den Balkon, immer zu unterschiedlichen Zeiten, wenn Mama entweder einkaufen war oder das Mittagessen kochte. Irgendwie wollte er nicht, dass sie es mitbekam, denn sie würde es ganz bestimmt verbieten. Komischerweise war der Alte immer schon auf dem Balkon, als würde er dort auf Mirko warten.
An einem Tag – Mirko wusste nicht, ob inzwischen Tage, Wochen oder Monate vergangen waren, so etwas wie Zeit schien nicht mehr zu existieren – kam Mama auf den Balkon, als Mirko gerade einen Schuss des Alten abgefangen hatte.
Sie lächelte. Das hatte sie schon sehr lange nicht getan. „Mirko, rate mal, was passiert ist.“
Mirko zuckte mit den Schultern.
„Sie machen wieder auf“, sagte Mama. „Nicht morgen, aber nächste Woche. Dann darfst du wieder in die Schule und vielleicht sogar wieder ins Fußballtraining.“
Mirkos Augen leuchteten. „Wirklich?“
„Ja, wirklich!“
Er machte einen Satz in die Luft, dann lehnte er sich über den Balkon und sagte in Richtung des alten Mannes: „Haben Sie das gehört, wir-“ Doch er brach den Satz jäh ab, denn der gegenüberliegende Balkon war leer.

Yassin saß in seiner Ecke am Zaun, von der aus er einen Teil des Meeres sehen konnte, und weinte. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie angekommen waren und wie lange sie schon hier waren. Die Zeit hatte aufgehört zu existieren. Den Lärm um sich herum nahm er gar nicht mehr wahr. Das Meer am Horizont war nur eine dünne, graue Linie, die das durchgehende, perfekte Blau des Himmels scharf abschnitt. Nichts regte sich, nicht die kleinste Welle kräuselte sich auf dem silbrigen Wasser, in dem sich die Sonne spiegelte. Vielleicht war Yassin aber auch einfach nur zu weit entfernt, um die Wellen zu erkennen. Keine Spur von einem Boot. Auf einmal sprach ihn diese Frau an. Sie saß direkt neben ihm, obwohl er sie nicht hatte kommen sehen. Vielleicht hatte sie auch schon die ganze Zeit dort gesessen und er hatte sich unbewusst neben sie gesetzt, da er nach all der langen Zeit im Camp gelernt hatte, Menschen einfach auszublenden, weil es viel zu viele von ihnen hier gab. Es war eine alte Frau mit faltigem Gesicht, das von einem ausgeblichenen, schmutzigen Kopftuch umrahmt wurde. Sie sah sogar ein bisschen aus wie Oma.

„Warum weinst du denn, kleiner Mann?“, fragte die Alte.
Yassin wandte sich ab, weil es ihm peinlich war, vor dieser fremden Frau zu weinen. Er hatte schließlich auch noch so etwas wie einen Stolz, auch wenn es schwer war, ihn an einem Ort wie diesem zu wahren. „Weil ich es verloren habe“, sagte er sehr leise.
„Was hast du verloren?“, fragte die Alte und Yassin war überrascht, dass sie ihn überhaupt verstanden hatte. Ihre Ohren schienen trotz ihres Alters noch sehr gut zu sein.
„Mein Geruchsfoto“, flüsterte Yassin noch leiser. Diesmal konnte sie ihn nicht verstanden haben. Doch die Frau antwortete: „Oh. Ich verstehe.“ Dann sagte sie nichts mehr, wühlte aber in den Taschen der viel zu großen bunten Regenjacke, die sie trug. Dann hielt sie ihm ein Stück Papier entgegen. Es war ausgefranst und schmutzig, vielleicht ein altes Kaugummipapier. „Weißt du, was das ist?“
Yassin schüttelte den Kopf.
„Das ist mein Geruchsfoto. Mit dem Geruch meiner Heimat.“ Sie hielt sich den Fetzen an die Nase und roch daran, die Augen geschlossen und den offenbar herrlichen Duft tief einsaugend. Dann sah sie Yassin wieder ins Gesicht. „Wusstest du, dass man die ganz einfach selbst machen kann? Es muss nicht mal ein Gegenstand sein, der wirklich aus deiner Heimat stammt.“
Gegen seinen Willen hatte die merkwürdige Alte jetzt wirklich Yassins Interesse gewonnen. „Muss es nicht?“, fragte er überrascht.
„Du kannst einen beliebigen Gegenstand nehmen und ihn mit deiner Geruchserinnerung aufladen.“
„Aber das geht jetzt nicht mehr“, seufzte Yassin, „ich habe den Geruch doch schon vergessen!“
„Probier es mal. Ich bin mir sicher, dass es immer noch geht. Die Erinnerung ist immer noch da. Ganz tief drin in deinem Kopf. Zum Aufladen reicht das aus.“ Sie wühlte wieder in ihrer Tasche und hielt ihm einen weiteren Fetzen Papier hin. „Hier, der ist noch neutral.“
Yassin nahm das Stück Papier entgegen und hielt ihn vorsichtig mit beiden Händen fest, als wäre es aus Gold. „Was muss ich tun?“, hauchte er.
„Halt ihn dir vor die Nase und denke ganz fest an Zuhause. Ganz fest, verstehst du? Sodass du quasi von hier abhebst und dorthin schwebst.“
Yassin nickte, bereits voll in mentaler Konzentration. Dann hielt er sich den Papierstreifen vor die Nase, schloss die Augen und dachte an Zuhause. An ihr kleines Haus am Hang. An die unendlichen Olivenplantagen, durch die er mit seiner kleinen Schwester gerannt war. An die Blechdosen auf der Straße, mit denen er und seine Freunde immer Fußball gespielt hatten. An den Staub, den er sich abends aus den Haaren hatte schütteln müssen. Und dann war der Duft auf einmal wieder da. Er stieg ihm in die Nase wie heißer Dampf einer köstlichen Suppe, wenn man das Gesicht direkt über den Kochtopf hält. Der Duft durchströmte seine Nebenhöhlen, seine Luftröhre und seine Lunge, schien ihn auszufüllen wie Gas einen Ballon. Yassin liefen wieder Tränen über das Gesicht. Diesmal wandte er sich nicht von der Alten ab. Er wollte ihr dafür danken, dass sie ihm sein Geruchsfoto zurückgegeben hatte. Doch als er die Augen wieder öffnete, war sie verschwunden.

Copyright Meike Mittmeyer-Riehl, 2021
Keine Weitergabe oder Vervielfältigung ohne ausdrückliches Einverständnis der Autorin!

Beitragsfoto: Ulrike Mai auf Pixabay

Die erste Umarmung

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie komisch es war,
Als die Kontaktbeschränkungen neu waren und man plötzlich niemanden mehr umarmen durfte.
Umarmungen, die hatte man doch so völlig selbstverständlich und nebenbei verteilt:
Hier die Freundin im Café, da der Arbeitskollege nach dem Urlaub,
Eltern, Bruder, sonstige Familie natürlich sowieso.
Und auf einmal musste man sich höllisch darauf konzentrieren,
Diese beiläufige Geste sein zu lassen, von heute auf morgen.

Ich habe mir in dieser Zeit oft vorgestellt,
Wie sie wohl werden wird: die erste Umarmung nach Corona.
Und je näher sie jetzt rückt, desto unwohler fühle ich mich damit.
Symbolisiert sie doch so deutlich wie kaum eine andere Geste die alte Normalität,
die uns abhandengekommen ist über die letzten eins-Komma-irgendwas Jahre.
Alle reden von „Normalität“, aber wissen wir nach so langer Zeit überhaupt noch, was das ist?

Ich glaube eher, wir versuchen eine alte Normalität
Auf Biegen und Brechen in einen Rahmen zu zwängen,
in den sie nicht mehr hineinpasst.
Denn er ist verbogen, verbeult und ausgeleiert.
Es ist immer leichter, in eine neue, ungewohnte, unangenehme Situation hineinzukommen
Als wieder heraus.
Denn hinein wird man geschubst.
Heraus muss man selbst finden:
Kletternd, kraxelnd, kriechend, springend. Wie auch immer.
Hauptsache raus.

Wir haben uns ein Schneckenhaus gebaut.
Haben uns Bananenbrot-backend, strickend, lesend, skypend, joggend
Durch diesen Pandemie-Alltag gehobbyt.
Ich zum Beispiel habe mir einen Hula-Hoop-Reifen gekauft.
Bezeichnend für diese Zeit, irgendwie, dreht der sich doch unermüdlich im Kreis um meine Hüfte
Und kommt dabei doch keinen Millimeter voran.
Aber abgesehen davon war mein substanzieller, kreativer Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte in all dieser Zeit:
Zero.

Wenn man mich vor genau einem Jahr gefragt hätte, was das erste sein wird, das ich nach überstandener Pandemie tue, hätte ich mit Inbrunst gerufen:
„Die ganze Welt umarmen! Und mir dann auf Konzerten wieder die Seele aus dem Leib brüllen, zusammengepfercht mit Tausenden anderen.“
Jetzt, ein Jahr später, müsste ich diese Frage mit einem nichtssagenden, aber ehrlich gemeinten „Hm“ beantworten.

Standen wir früher wirklich zu Tausenden, ja Zehntausenden dicht gedrängt beieinander
Sodass man Leib von Leib nicht mehr unterscheiden konnte
Und fühlten uns auch noch wohl dabei?
Heute zucke ich schon zusammen, wenn im Fernsehen eine Menschenmenge aus längst vergangenen Zeiten gezeigt wird.
Wie unrealistisch. Fast wie Science-Fiction.
Vielleicht habe ich verlernt, was ich einst liebte.
Vielleicht habe ich auch nur vergessen, was ich daran mochte.
Bestimmt kommt die Erinnerung wieder. Ja, hoffentlich.
Vielleicht.  

Die Eintönigkeit der Tage hat Einzug gehalten in unser Denken und unser Fühlen
Und ich kenne kaum jemanden, den diese rasende, rastlose Stille
Zu kreativen Höhenflügen befähigt hätte, auch wenn wir uns das alle sicher gewünscht haben.
Doch an die Stelle jeglicher Kreativität trat eine dumpfe, bleierne Schwere.
Abgekämpft und ermattet von so manchen Diskussionen
Desillusioniert und entfremdet von manchen Menschen, von denen man einst dachte, sie stünden einem nahe.
Zu wütend, um müde zu sein.
Zu müde, um wütend zu sein.
Andere, schlauere Leute haben ein treffendes Wort für diesen Gemütszustand gefunden: mütend.
Ja, ich bin auch mütend.

Und manchmal frage ich mich schon ernsthaft, ob das Echo dieser brüllenden Leere
Jemals wieder verhallen wird, oder ob es bleibt.
Wie eine Art kollektiver gesellschaftlicher Tinnitus.
Leise genug, wenn das Leben laut und lärmend ist.
Aber laut genug, um uns in den stillen Momenten unangenehm daran zu erinnern:
Hallo, ich bin auch noch da.
Wird alles wie früher?
Hm.

Und doch war nicht alles umsonst.
Hat uns das Leben doch auf bittere Weise gezwungen, zu lernen:
Keine Umarmung ist selbstverständlich.
Lächeln kann man nicht nur mit dem Mund.
Hilfe kommt oft von völlig unerwarteter Seite.
In Krisen zeigen Menschen ihr wahres Gesicht (auch wenn es hinter einer Maske verborgen ist).
Freundschaften halten nicht alles aus.

Und vielleicht müssen wir genauso lernen, diese Ambivalenz auszuhalten:
Angst davor zu haben, dass nichts mehr so sein wird wie es einmal war
Und gleichzeitig Hoffnung daraus zu schöpfen, dass alles anders werden wird als zuvor.  

Copyright Meike Mittmeyer-Riehl, Mai 2021
Keine Weitergabe oder Vervielfältigung ohne ausdrückliches Einverständnis der Autorin!
Beitragsfoto: Gerd Altmann auf Pixabay

Gastbeitrag: Deutschland, wir müssen reden!

dezembra.blog

Foto: Daiga Ellaby / unsplash.com

Frauen über 30 ohne Kinder werden auch in einem Deutschland des Jahres 2021 beäugt, bemitleidet oder gar als Provokation empfunden. Vor allem, wenn sie sich bewusst gegen Nachwuchs entscheiden. Werbung, Film und Fernsehen wollen ihnen einreden, mit ihnen stimme etwas nicht. Es ist höchste Zeit, die sehr persönliche Frage „Kind oder kein Kind?“ zu versachlichen. Andere Länder sind uns da weit voraus.  

Von Meike Mittmeyer-Riehl  

Deutschland, wir müssen reden. Du gibst dich immer gern so betont tolerant und weltoffen, dass man glatt meinen könnte, inzwischen sei so gut wie jeder individuelle Lebensweg gesellschaftlich toleriert. Auf dem Papier mag das so sein. Dass es mit dieser angeblichen Toleranz in der Realität nicht allzu weit her ist, davon können viele homosexuelle Paare, Regenbogenfamilien und Menschen mit anderer Hautfarbe ein Lied singen. Auch beim Thema Mutterschaft hat man in Deutschland manchmal eher das Gefühl, in grauer…

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Auswahl meiner Reisereportagen jetzt online

Das Reisen ist meine große Leidenschaft. Jetzt, in Zeiten der Corona-Krise, vermisse ich es unendlich, die Welt zu erkunden, durch Regenwälder zu wandern, hohe Sanddünen zu erklimmen, den Sternenhimmel in der Wüste zu ergründen und mich in die Wellen zu stürzen. Da bleibt einem nur, im Kopf zu reisen und die wunderbaren Eindrücke revue-passieren zu lassen, die man im Laufe des Lebens schon sammeln durfte.

Ich habe über einige meiner Reisen Reportagen für Zeitungen geschrieben. Eine Auswahl davon habe ich nun online gestellt – vielleicht ist ja der ein oder andere nützliche Tipp dabei. Für eine Zeit nach Corona, irgendwann.

Können wir wirklich?

Vor knapp zwei Jahren habe ich meinen Internet-Blog, den ich während meines Auslandssemesters in Chicago 2008 geschrieben habe, als Buch veröffentlicht. Es ist mir neulich mal wieder in die Hände gefallen. Genau heute vor 12 Jahren war ich bereits in Chicago. Auch damals ging der US-Wahlkampf in die heiße Phase. Obamas Heimatstadt befand sich bereits im kollektiven Freudentaumel, der „Obamanie“. Es war ein anderes Amerika damals. Und es war eine andere Welt.

Im Vorwort für das Buch schrieb ich 2018: „Heute, nur zehn Jahre später, wissen wir leider, dass sich die Welt in vielen Bereichen ganz anders entwickelt hat als wir uns das im Jahr 2008 noch erhofft hatten. Es scheint fast, als habe sie sich rückwärts gedreht. Auf dem Höhepunkt der „Obamanie“ war die Vorstellung, dass weniger als zehn Jahre nach der Wahl des ersten schwarzen US-Präsidenten rechtspopulistische Parteien weltweit die Parlamente stürmen, dass offen geäußerter Rassismus plötzlich wieder salonfähig ist, dass Mauern gebaut statt abgerissen werden und dass die Welt unter den Trumps, Putins, Erdogans und Orbans aufgeteilt wird, so fern wie eine andere Galaxie.“

Ich schrieb aber auch: „Ich glaube nach wie vor daran, dass eine bessere Welt möglich ist. Doch sie ist kein Selbstläufer. Wir alle müssen etwas dafür tun. Das muss ja nicht gleich in eine „Obamanie“ münden. Aber ein Gemeinschaftsgefühl, ein Gefühl des Aufbruchs und der Glaube daran, etwas zum Guten verändern zu können – das ist möglich, und dieser Glaube kann uns einen. Es hat doch schließlich schon mal geklappt. Yes we could. Yes we can.“

Mittlerweile bin ich mir da ehrlich gesagt nicht mehr so sicher. Aber Hoffnung sollte immer das letzte sein, was man verliert. Fest steht, dass die Welt auch mit dieser anstehenden Wahl an einem Wendepunkt angekommen ist, in jeglicher Hinsicht. Die Berichte, die ich tagtäglich aus meiner früheren Heimat auf Zeit verfolge, machen mich sehr traurig. Umso wehmütiger blättere ich hin und wieder in diesem Zeitzeugnis, das aus einem Universum zu stammen scheint, in dem eine bessere Welt noch greifbar erschien. Es wäre besser gewesen, wir hätten zugepackt, als noch Zeit dafür war.

Das Ebook „Yes We Could“ von Meike Mittmeyer-Riehl gibt es hier bei Neobooks

Das gedruckte Buch „Yes We Could“ von Meike Mittmeyer-Riehl gibt es hier bei epubli